
Im Jahr 2027 wird der Digitale Produktpass eingeführt. Dann könnten Kunden mit ihren Produkten ein Gespräch führen. Generative KI macht es möglich.
Noch sind es rund 25 Jahre, dann soll der „Grüne Deal“ stehen. Europa will im Jahr 2050 der erste klimaneutrale Kontinent sein, bis dahin müssen allerdings der Ausstoß von Treibhausgasen massiv gesenkt und viele Milliarden Bäume gepflanzt sein. Eine gewaltige Aufgabe, die von zahlreichen Abkommen, Verordnungen und Vorschriften flankiert ist. Wie kompliziert dieses Unterfangen ist, lässt sich am Schicksal des EU-Lieferkettengesetzes ablesen. Auch dieses Vorhaben zielte darauf ab, die Auswirkungen auf die Umwelt zu minimieren, liegt allerdings nun erst einmal auf Eis. Trotz aller Umweltziele hatten viele Mitgliedsländer Angst vor dem damit verbundenen bürokratischen Aufwand. Jetzt wird neu verhandelt.
Eine andere Verordnung, die ähnlich nachhaltige Ziele verfolgt, gilt dagegen als gesetzt. Vermutlich im Jahr 2027 wird der Digitale Produktpass (DPP) eingeführt. Dieser ist Teil der Verordnung über Ökodesign-Anforderungen für nachhaltige Produkte (Ecodesign for Sustainable Products Regulation, ESPR) und gilt ebenfalls als wichtiger Baustein auf dem Weg zum Green Deal.
Bis auf wenige Ausnahmen muss demnächst jedes Produkt, das in Europa verkauft wird, so einen Pass haben. Er enthält grundlegende Informationen wie Produktname und Typ, Angaben zu Materialien, Zusammensetzung, Datum und Ort der Herstellung, Gewährleistung und Garantie, aber auch Reparatur- und Recyclingfähigkeit sowie Umweltauswirkungen. Eine Menge Infos also, die von den Unternehmen zusammengetragen und im DPP gebündelt werden müssen und für alle Hersteller, Händler und Endverbraucher jederzeit abrufbar sind.
Allein durch die detaillierten Angaben zur richtigen Entsorgung soll weniger Müll auf den Deponien landen, durch die Daten zur Wiederverwendung die Recyclingquote deutlich steigen. „Die über digitale Produktpässe bereitgestellten Daten ermöglichen eine präzisere Identifizierung wiederverwendbarer Bauteile“, heißt es in einem Fachbeitrag von Capgemini. „Somit unterstützen DPPs eine ressourcenschonende Produktionsweise und reduzieren den ökologischen Fußabdruck im gesamten Lebenszyklus.“
Consultinggesellschaften wie Capgemini haben das Thema auf dem Schirm, weil sich hier in den kommenden Monaten viel Beratungsbedarf ergibt. Auch Industrie- und Handelskammern sowie Verbände wie der BVDW oder VDE positionieren sich zum Digitalen Produktpass. In einer Mitteilung des Deutschen Instituts für Normung (DIN) heißt es beispielsweise, die Bedeutung des DPP für die Interaktion und den Informationsfluss zwischen den Markteilnehmern könne gar nicht hoch genug eingeschätzt werden und habe einen massiven Einfluss auf das gesamte ökonomische Handeln.
NFC-Chip im Hemdenknopf
Rein technisch gesehen werden für den DPP künftig in Möbel und Kühlschränken, an Weinflaschen und T-Shirts QR-Codes oder NFC-Chips angebracht. Über die gelangt man dann an alle Informationen, wenn man sein Handy davorhält.
Damit ergeben sich im Dialog mit den Käuferinnen und Käufern neue Möglichkeiten. Denn die Infos in dem Produktpass müssen nicht nur die vorgeschriebenen Inhalte aufweisen. Sie können mit allen möglichen Hinweisen versehen sein, die für Verbraucher interessant sind. Damit eröffne sich ein neuer Zugang in die Produkt- und Markenwelt, sagt Tommaso Melani, CEO des italienischen Schuhherstellers Stefano Bemer. „Ein tiefer Blick hinter die Kulissen und ein bequemer Zugriff auf unsere Servicewelt. Und ein Smartphone genügt.“
Die Marke Stefano Bemer hat den DPP bereits getestet, ebenso wie B&W Cases of Success. B&W-Geschäftsführer Gerhart Seichter spricht davon, dass seine Koffer damit „intelligent und einfallsreich“ geworden seien.
Stefano Bemer und B&W sind Kunden von Narravero. Der Tech-Dienstleister aus Münster stellt Unternehmen eine technische Plattform für den Digitalen Produktpass bereit und sieht darin auch große Chance für das Marketing. „Damit eröffnet sich ein neues Dialogfeld im Kundenkontakt“, erklärt Thomas L. Rödding, Gründer und CEO von Narravero. „Denn der Digitale Produktpass lässt sich mit allen möglichen Informationen füllen: Mit der Gebrauchsanleitung, mit Siegeln und Zertifikaten, Hinweisen zur Nachbestellung oder Ersatzteilen oder einer Anbindung an den Onlineshop.“ Hat ein Hemden-Hersteller also in einem Knopf einen NFC-Chip integriert, kann der Kunde am Handy nachlesen, wie es sich waschen und pflegen lässt und wo er den dazu passenden Pullover bestellen kann.
Die Frage ist nur, ob man in dem Wust an Informationen nicht den Überblick verliert. Wenn man aber zu viel Zeit aufbringen muss, zu den relevanten Informationen vorzudringen, ist auch die neue Chance zum Kundendialog vertan. Rödding räumt deshalb dem Einsatz von Generativer KI große Chancen ein. Denn wenn mit allen relevanten Informationen ein Chatbot trainiert wurde, der gewissermaßen im Backend des DPP agiert, könnte der Kunde tatsächlich mit dem Produkt sprechen. Er könnte fragen, wie die richtige Pflege aussieht, wo Ersatzteile bestellt werden könnten, aber auch welche Hose zu diesem Hemd passen würde.
Eigene Daten schützen vor Halluzinationen
Man habe so einen Chatbot schon mit einem Weinbauern getestet, berichtet Rödding. Man konnte dann eine Flasche Wein fragen, was denn das für ein Winzer sei, auf welchem Boden angebaut wurde und zu welchen Gerichten der Wein passt. Das Sprachmodell des Chatbots wurde also mit unternehmensspezifischen Daten trainiert und griff gleichzeitig auf das generische Wissen von ChatGPT-4 zu. Damit wird aber auch die Tür für falsche Antworten einen Spaltbreit geöffnet. Denn ChatGPT ist immer noch nicht davor geschützt, zu „halluzinieren“. Trotz aller Bemühungen von Open AI treten immer wieder Fälle auf, wonach ChatGPT haarsträubend falsche Antworten liefert.
Experten wie Rödding raten deshalb dazu, im ersten Schritt den Bot ausschließlich mit Faktenwissen zu füttern – mit Produktinfos, Herkunftsnachweisen, Inhalten von Handbüchern. Also mit den Daten und Fakten, über die das Unternehmen die Hoheit hat. Der wichtigste Schritt sei ohnehin, sich erst einmal überhaupt mit dem DPP auseinandersetzen und in den Unternehmen entsprechende Projektgruppen einzurichten. Diese sollten nach Möglichkeit interdisziplinär aufgestellt sein, mit Vertretern aus dem Bereich CSR, aber auch dem Marketing. Man sollte von Anfang an beide Seiten mitdenken.
Der digitale Produktpass sei gekommen, um zu bleiben, unterstreicht auch Marc Schmid, Manager Business Technology bei Capgemini Invent Germany in seinem Fachbeitrag. Unternehmen, die jetzt handelten, sich vernetzten und kooperierten, schreibt er, kämen in die Lage, neue Wachstumschancen zu nutzen und gleichzeitig einen positiven Beitrag zur Nachhaltigkeit der Wirtschaft zu leisten.