MACH, Best of Breed, Headless, APIs oder PBCs: Im E-Commerce haben diese Begriffe seit Jahren einen festen Platz. Doch was macht das vermeintliche Buzzword Composable Commerce zum Zukunftsmodell für Unternehmen des digitalen Handels? In diesem Beitrag erklärt Dr. Philipp Hoberg vom IT-Berater Valantic, warum es für die erfolgreiche Umsetzung einer Composable-Commerce-Strategie mehr braucht als einen anpassungsfähigen Tech-Stack.
Überraschend kommt die Entwicklung hin zu Composable-Commerce-Modellen nicht: Dynamische Märkte machen es notwendig, schnell auf neue Anforderungen reagieren zu können. Dabei stellen starre monolithische Legacy-Infrastrukturen für die strategische Geschäftsentwicklung zunehmend ein Risiko dar. Denn sie hemmen die Innovations- und Reaktionsfähigkeit, die es braucht, um Veränderungen im Verbraucherverhalten sowie neue Marktchancen antizipieren und adressieren zu können.
Multichannel-Modelle geraten unter Druck
Nach Jahren der Investitionen in Technologien, Infrastruktur, Teams und Prozesse ist die Euphorie, die durch den digitalen Rückenwind der Corona-Jahre noch beflügelt wurde, bei vielen Unternehmen einer gewissen Ernüchterung gewichen. So sehen sich viele E-Commerce-Verantwortliche vor allem im Multichannel-Kontext nach einigen teils experimentellen oder von Wachstum geprägten Jahren mit der Herausforderung konfrontiert, dass das Onlinegeschäft nun endlich einen validen Beitrag zum Gesamterfolg des Unternehmens leisten soll.
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Bei einer Composable-Commerce-Strategie geht es darum, branchenführende E-Commerce-Komponenten verschiedener Anbieter wie Bausteine zu einer maßgeschneiderten Anwendung zusammenzuführen.
Vorbei sind die Zeiten, in denen klaglos selbst große Budgets freigegeben wurden, um bloß nicht den Anschluss im digitalen Wettbewerb zu verlieren. So stehen „ganz plötzlich“ Forderungen im Raum, wie z. B. die E-Commerce-Plattform in die schwarzen Zahlen zu führen oder sie endlich als strategische Triebfeder für weiteres Wachstum (z. B. im internationalen Kontext) nutzen zu können.
Gleichzeitig erhöhen sich der Druck durch den Wettbewerb und die Erwartungshaltung von Kunden weiter. Insbesondere im B2B-Umfeld wollen Nutzer nicht mehr nur ihren Bedarf im Einkauf decken, sondern effizient mit dem Anbieter interagieren und zusammenarbeiten können. Sie erwarten effiziente Interaktionen und Zusammenarbeit mit ihren Anbietern, was durch starre Systeme erschwert wird.
Für die Bewältigung dieser Herausforderungen können klassische und zumeist schwerfällige Legacy-Infrastrukturen kaum eine Lösung bieten. Ihre Nachteile sind offensichtlich:
- Fokus auf zeit- und kostenintensive Maintenance: Updates, kleinere Anpassungen und sonstige „Baustellen“ gehen meist mit signifikanten Abhängigkeiten innerhalb des Gesamtsystems einher. Dadurch rauben Maintenance-Aufgaben Zeit, mindern die Performance oder führen sogar zu temporären Ausfällen.
- Aufwändiges Verproben: Das Verproben neuer Funktionen nimmt bei einer monolithischen Architektur schnell den Charakter eines eigenen Projekts an. Meist bleibt es dann bei der Idee, um schwer zu kalkulierende Aufwände zu vermeiden.
- Abhängigkeiten und unklare Aufgaben innerhalb der Teams: Monolithische Organisationsstrukturen und große Teams verhindern eine effiziente Koordination von Aufgaben und bremsen Innovationen aus. Von der Idee bis zum Deployment neuer Funktionen dauert es oft sehr lange.
- Kein Gesamtüberblick: Weil E-Commerce häufig als Nebenprojekt startet und die wachsende Architektur zunehmend komplexer wird, fehlt die Übersicht, um neue Anforderungen einfach abbilden zu können.
Allheilsbringer Composable Commerce?
Kunden erwarten personalisierte Erlebnisse und die Integration von Online- und Offline-Kanälen zu einer nahtlosen Customer-Journey. Für Händler gibt es dabei neben strategischen Herausforderungen auch operative Hürden zu meistern. Viele Unternehmen sind erst noch dabei, ihre Datensilos abzubauen und verschiedene Subsysteme miteinander zu verknüpfen.
Die Anpassung an neue Technologien und digitale Plattformen ist allerdings entscheidend, um den kundenzentrierten Ansatz überhaupt umzusetzen. Ein weiterer operativer Baustein: Unternehmen müssen kontinuierlich Kundenbedürfnisse analysieren und die Erkenntnisse in der Entwicklung neuer Produkte und Dienstleistungen nutzen, um z.B. die Kundenansprache über alle Kanäle hinweg zu optimieren.
Mit Blick auf diese strategischen und operativen Herausforderungen verspricht Composable Commerce ein Allheilsbringer zu sein. Ein schlanker, anpassungsfähiger und maßgeschneiderter Tech-Stack ermöglicht es Händlern, ihre digitalen Kontaktpunkte und Prozesse sowie die zugrundeliegende Infrastruktur kontinuierlich zu optimieren und an neue Anforderungen anzupassen. Beispielsweise können durch die Integration von Microservices spezifische Funktionen wie Zahlungsabwicklungen oder Produktempfehlungen unabhängig voneinander entwickelt und aktualisiert werden. Dadurch können Händler schnell auf Marktveränderungen reagieren und neue Features einführen, ohne das gesamte System zu überarbeiten.
Flexibler, schneller und effizienter
Eine klar auf APIs ausgerichtete Strategie ermöglicht es zudem, verschiedene Systeme einfacher und schneller miteinander zu verknüpfen und eine konsistente Customer-Journey über alle digitalen Kontaktpunkte hinweg zu gewährleisten. Darüber hinaus kann eine cloud-native Architektur die Skalierbarkeit und Flexibilität erhöhen, sodass Unternehmen ihre IT-Ressourcen effizient an saisonale Nachfrageschwankungen anpassen können.
Was Composable Commerce dabei maßgeblich von bisherigen, eher technologiezentrierten Ansätzen unterscheidet, ist die ganzheitliche, mehrdimensionale Betrachtungsweise.
Warum Composable-Commerce-Initiativen scheitern
Die Flexibilität, die sich aus Composable-Architekturkonzepten wie z. B. MACH (Microservices, API-first, Cloud-native, Headless) ergibt, ist für sich genommen aber nicht das Allheilmittel. Das Ziel, hierüber auch wirklich Geschwindigkeit am Markt aufnehmen zu können, kann nur dann erreicht werden, wenn es Unternehmen gelingt, das Paradigma der Anpassungsfähigkeit im gesamtunternehmerischen Denken und Handeln zu verankern.
Eine neue Online-Plattform ändert also nichts, wenn weiterhin auf starre interne Prozesse und alte Organisationsstrukturen gesetzt wird. Ohne die Etablierung weiterer „Composable Capabilities“ – von der internen Organisationsstruktur bis hin zu den Business-Prozessen – sind Composable-Commerce-Strategien zum Scheitern verurteilt. Was es braucht sind:
- dedizierte, interdisziplinäre Teams, die unabhängig voneinander agieren, um ihre Produktbausteine innerhalb flexibler Architekturkonzepte schnell und fokussiert vorantreiben zu können
- eine übergreifende Orchestrierung der Teams über ein agiles Programmmanagement
- eine End-to-End-Strategie von der Zielsetzung bis zur Erfolgsmessung, die es ermöglicht, neue Anforderungen und Projekte zu priorisieren und immer wieder herauszufordern
- eine Unternehmenskultur, die dem Grundsatz der Anpassungsfähigkeit folgend kontinuierliches Lernen und Verbessern fördert
- ein effektives Change-Management und Tech-Enablement, das Verständnis für die gewählten Technologien und Architekturprinzipien vermittelt – etwa durch Schulungen, neue Fachkräfte und/oder die Zusammenarbeit mit externen Partnern
Wie viel Composability braucht ein Unternehmen?
Wer über den Weg einer Composable-Commerce-Architektur mehr Geschwindigkeit gewinnen, messbare Effizienzeffekte erzielen und insgesamt agiler werden möchte, muss eine solche Initiative also als ganzheitliches Transformationsprojekt der Unternehmensarchitektur verstehen. Die Umsetzung einer Composable-Commerce-Strategie bedeutet dabei einen mehr oder minder großen Wandel.
Die Frage, wie viel Composability ein Unternehmen braucht und welche Composable Capabilities erfolgskritisch sind, hängt dabei vom jeweiligen Geschäftsmodell ab. Beispielsweise benötigen Einzelhändler, die standardisierte Massenprodukte wie Bekleidung oder Haushaltswaren verkaufen, besonders skalierbare Systeme, um große Mengen an Bestellungen effizient zu verarbeiten und auf saisonale Nachfrageschwankungen reagieren zu können.
Im Gegensatz dazu müssen vor allem Händler mit spezialisierten Sortimenten und komplexeren Konfigurations- und Orderprozessen (z. B. individuelle Zu- und Ausschnitte im Stahlhandel) in der Lage sein, diese Prozesse kontinuierlich zu optimieren und an die Kundenbedürfnisse anzupassen.
Fest steht: Composable Commerce ist gekommen, um zu bleiben. Die Krux dieses Konzepts liegt darin, eine dynamische Geschäftsstruktur zu etablieren, um die Potenziale, die einer solchen – auf den ersten Blick sehr technisch geprägten – Initiative zu Grunde liegen, auch wirklich nutzen zu können.