Amazons Haul-Experiment erweist sich als halbherziger Vorstoß ohne echten Mehrwert und könnte schon bald wieder verschwinden, sagt Spryker-CEO Alexander Graf. Welche Chancen der Etailment-Experte 2025 für Perplexity Shopping und für die Supply-Chain-as-a-Service-Strategie von Shein sieht, erläutert er in seinem neuen Gastbeitrag.
1. Amazon Haul wird floppen
Amazon ist bekannt für seine Dominanz im E-Commerce – doch echte Innovationen jenseits des eigenen, streng kuratierten Marktplatz-Ökosystems sind Mangelware. Genau hier liegt das Problem von Amazon Haul. Diese im Frühjahr 2024 angekündigte Antwort auf die chinesischen Herausforderer wie Temu und Shein ist weder mutig noch strategisch eingebunden, sondern vielmehr eine schnell entwickelte, halbherzige und bei Erscheinen schon veraltete Kopie der neuen Onlinehandelstrends.
Während Temu & Co. einen „Intent-losen“ E-Commerce etablieren, bei dem Kunden einfach zum Stöbern in die App kommen und sich inspirieren lassen, bleibt Amazon Haul ein konventionelles, suchbasiertes Angebot. Die Kunden müssen gezielt nach günstigen Produkten Ausschau halten.
Wäre Amazon selbst von Haul überzeugt, hätte man es nahtloser in die bestehende Infrastruktur integriert. Stattdessen hat man ein separates Umfeld geschaffen, das sich weder für Kunden noch für die Plattform selbst rechnet.
© Amazon
Bislang gibt es Amazon Haul nur in den USA. Mit der Plattform für Billiggprodukte unterhalb der 20-Dollar-Grenze reagiert Amazon auf die Konkurrenz durch Temu und Shein.
Auch aus Sicht der Händler bietet dieses Modell wenig Reiz. Zwar können einige chinesische Anbieter günstig direkt an Kunden liefern, ohne die teuren FBA-Services in Anspruch zu nehmen. Doch was nützt ein Händlerangebot ohne relevanten Traffic?
Temu und Shein generieren enorme Reichweite, pushen aggressiv ihre Apps und schaffen damit täglich neue Kaufimpulse. Doch Amazon Haul setzt weiter auf ein intent-basiertes Modell, bei dem Kunden bereits wissen müssen, was sie suchen. So entsteht ein Angebot, das keinem der Beteiligten dauerhaft einen Mehrwert liefert.
Kurzum: Amazon Haul ist ein Schnellschuss ohne strategischen Unterbau. Es bringt keinen zusätzlichen Kundennutzen und nutzt Amazons kostspielige Logistikinfrastruktur nicht sinnvoll aus. Ein Jahr nach dem Start wird sich zeigen, dass dieser Vorstoß ins Niedrigpreis-Segment ohne inspirierendes Nutzererlebnis und ohne gezielte Reichweiten-Offensive nicht gegen Temu & Co. bestehen kann. Schon bis Ende 2025 könnte Amazon wieder den Stecker ziehen – und den Namen „Haul“ schneller vergessen, als er sich im Markt etablieren konnte.
2. Perplexity Shopping ist alter Wein in neuen Schläuchen
Viele Branchenbeobachter halten KI-Shopping für die nächste große Innovation im E-Commerce. Doch bei genauerem Hinsehen wirkt das Konzept eher wie eine Wiederauflage vertrauter Ideen – zumindest im aktuellen Stadium.
Auch das viel beachtete Perplexity Shopping auf Basis der populären KI-Suchmaschine Perplexity wirkt wie der x-te Versuch, die digitale Suche nach Produkten durch neue Kanäle oder Technologien smarter zu gestalten. Die Grundannahme dahinter: Kunden wüssten genau, wonach sie suchen, und müssten dabei nur besser unterstützt werden. Doch diese Prämisse ist längst überholt.
Mit dem Aufkommen von Plattformen wie Temu und Shein hat sich ein völlig neuer Konsumansatz etabliert. Hier wartet der Kunde nicht darauf, dass sein Bedarf durch eine Suchanfrage beantwortet wird. Stattdessen analysieren Algorithmen sein Verhalten anhand zahlreicher Datenpunkte, um ihn aktiv zu inspirieren – oft noch bevor er selbst weiß, dass er etwas kaufen möchte.
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KI-getriebener Marktplatz mit eigenem Checkout: Im November hat Perplexity die „Konversationssuchmaschine“ Perplexity Shopping vorgestellt.
Diese datengetriebene Vorschlagslogik entfaltet besonders dann ihre volle Kraft, wenn Nutzer täglich und ausgiebig mit der Plattform interagieren, Inhalte konsumieren, Videos ansehen oder Produkte liken. So entstehen individuelle Empfehlungen, die weit über die klassische Produktsuche hinausgehen.
Perplexity hingegen bleibt in einem alten Denkmuster gefangen: Wer nicht ausreichend Kundendaten sammeln kann – weil Nutzer nicht kontinuierlich und spielerisch mit der Plattform interagieren – wird am Ende nur altbekannte Filter- und Sortierlisten liefern können.
Selbst wenn Perplexity technologisch avanciert und in der Lage ist, KI-gestützte Produktempfehlungen auszuspielen, fehlt ihm der große Hebel, um Kunden in ausreichender Zahl anzulocken und zum Verweilen zu bewegen. Ohne eine dauerhafte, reichweitenstarke Nutzerbasis sind auch die besten KI-Algorithmen am Ende nur ein besserer Suchschlitz.
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Kurzum: Perplexity Shopping mag ein technisch beachtliches Tool sein, doch es löst kein fundamentales Problem des E-Commerce, das nicht längst von anderen Playern angegangen – und in Teilen besser gelöst – wird. Wenn es Perplexity nicht gelingt, eine neue Logik des Kundenkontakts zu etablieren, bleibt es ein guter Ansatz ohne echten Markt-Impact. Genau wie beim Apple Vision Pro steht zwar eine starke Technologie bereit, aber ohne überzeugende Anwendungsszenarien bleibt der Durchbruch aus.
3. Shein etabliert ein neues Geschäftsmodell und starke Eigenmarken
Shein, längst mehr als nur ein klassischer Fast-Fashion-Pionier, könnte schon 2025 ein Fundament für ein völlig neues Geschäftsmodell gelegt haben: Supply-Chain-as-a-Service.
Die Grundidee: Andere Händler nutzen Sheins hochgradig digitalisierte und agile Lieferkette, um ihr virtuelles Sortiment in Echtzeit zu erweitern und neue Produkte flexibel zu testen. Dank fortgeschrittener Datenanalyse und ultrakurzer Produktionszyklen profitieren Partner von Sheins Fähigkeit, Trends unmittelbar aufzuspüren und Bedarfe passgenau zu decken – ohne dabei selbst tief in Lagerbestände und Vorproduktionen investieren zu müssen.
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Shein fährt eine Doppelstrategie: Neben der eigenen Shopping-Plattform wollen die Chinesen ein „Supply-Chain-as-a-Service“-Modell etablieren.
Damit etabliert Shein ein zweites, profitables Standbein, das mittelfristig mehr Gewinn abwerfen könnte als das eigentliche Kerngeschäft. Diese Plattformstrategie passt perfekt in eine Welt, in der traditionelle Händler nach einer Infrastruktur suchen, die ihnen maximalen Spielraum für Innovation und Experiment erlaubt. Schon 2030 könnte Shein mit Supply-Chain-as-a-Service mehr Umsatz machen als mit dem bisherigen Kerngeschäft.
Parallel dazu nutzt Shein seine DNA als Trend-Scanner und Schnell-Umsetzer, um eine Reihe eigener Marken zu lancieren, die sich zunehmend vom reinen Image der günstigen Fast-Fashion lösen. Beispiele wie „SHEGLAM“ zeigen, dass Shein Marken kreieren kann.
Diese neuen Marken treten so eigenständig auf, dass Kunden oft gar nicht merken, dass Shein dahinter steht. Genau darin liegt der Clou: So baut Shein ein Marken-Universum auf, das unterschiedliche Zielgruppen, Preispunkte und Stilrichtungen anspricht. So diversifiziert das Unternehmen sein Portfolio, gewinnt an Marktmacht und schafft ein echtes Ökosystem.