Temu, Shein und Tiktok Shop erobern rasant relevante Marktanteile im globalen E-Commerce. Ihre erfolgreichen B2C-Modelle sollten auch von B2B-Händlern genauestens beobachtet werden. Denn es gibt einiges, was man von den Disruptoren aus China lernen kann – auch wenn sich nicht alles auf das Geschäft mit Firmenkunden übertragen lässt. Eine Analyse von Spryker-CEO Alexander Graf.
E-Commerce made in China schwimmt auf einer Erfolgswelle: Bei Temu hat nicht mal ein Jahr nach dem Deutschlandstart schon jeder vierte Deutsche bestellt. Der globale Marktanteil lag 2023 bei 7% und dürfte mittlerweile zweistellig sein. Genau wie der von Shein. Dass Temu sich jetzt für westliche Hersteller öffnet, dürfte das Wachstum zusätzlich beschleunigen. Und Tiktok Shop expandiert mit Macht in den USA und könnte allein dort in diesem Jahr auf 20 Milliarden Umsatz kommen – weit mehr als das Doppelte von dem, was Zalando insgesamt umsetzt.
Die Gründe für den Siegeszug der neuen Player aus Fernost wurden ausführlich beleuchtet. Es handelt sich um nicht weniger als eine Revolution des Onlinehandels. Sie vollzieht sich, wie es das Wesen von Revolutionen ist, abrupt und rasant und hat den B2C-Handel schon jetzt nachhaltig verändert. Nicht beleuchtet wurde bisher, was das für den – deutlich größeren und wachstumsstärkeren – B2B-Onlinehandel bedeuten könnte. Höchste Zeit, das zu ändern.
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Die Lieferketten- und Logistik-Innovationen großer chinesischer E-Commerce-Player könnten dem B2B-Handel als Vorbild dienen.
Die Supply-Chain-Umkehr funktioniert auch im B2B-Bereich
Entscheidender Erfolgsfaktor von Temu & Co ist die Rückwärtsintegration der Lieferkette: Dank direkter Verbindung zu den Herstellern und maschinellem Lernen kann extrem agil und nachfrageorientiert produziert werden. Auftragsfertigung (Make-to-order) ist im B2B-Bereich in vielen Branchen bereits heute und schon lange Standard. Dass Produkte erst auf Kundenwunsch produziert werden, ist durchaus üblich – allein schon, weil das Risiko, eine viele zehntausend Euro teure Maschine für die Tonne zu produzieren ungleich höher ist als bei Kleidungsstücken, die in der Produktion jeweils nur wenige Euro kosten.
Allerdings ist die Make-to-order-Produktion bislang ein sehr statischer Prozess, weil Maschinendaten und andere Spezifikationen in der Regel nicht öffentlich sind, viele Produkte patentgeschützt sind und angesichts oftmals oligopolartiger Strukturen die Hersteller eine entsprechende Preissetzungsmacht haben.
Wenn es B2B-Händlern gelingt, dank zunehmender Digitalisierung und möglicherweise mit Hilfe künstlicher Intelligenz zunehmend Produkte zu „entschlüsseln“ und dann etwa chinesischen Produzenten die Möglichkeit zu geben, vergleichbare Produkte oder zumindest Ersatzteile herzustellen, könnte das die Kräfteverhältnisse auf den Kopf stellen. Noch entwickeln die meisten B2B-Händler aber lieber Eigenmarken, anstatt gleich ganze Produktkategorien für Fremdhersteller zu öffnen und echte Disruption zuzulassen.
Die Logistik-Innovation von Temu ist die perfekte B2B-Blaupause
Massives Potenzial für B2B-Händler gibt es im Bereich der Logistik. F2C – Factory-to-Consumer – ist hier das Erfolgsrezept von Temu. Ware geht vom Hersteller, sprich aus der Fabrik, auf direktem Wege zum Endkunden. Auf Zwischenlagerung wird komplett verzichtet. Das geht zwar zu Lasten der kurzfristigen Verfügbarkeit, ermöglicht aber deutlich günstigere Endpreise.
Es gibt keinen Grund, warum dieses Prinzip nicht auch im Firmenkundengeschäft funktionieren sollte. Bei Produkten, deren Bedarf sich gut vorausplanen lässt und wo mangels Dringlichkeit Lieferzeiten von zwei bis drei Wochen akzeptabel sind.
Heutige B2B-Player orientieren sich bislang eher an Vorbildern wie Amazon – und damit an der alten E-Commerce-Welt: große Warenhäuser, alles auf Vorrat, schnelle Verfügbarkeit. Ein Credo, das nicht mehr gelten muss. Wieso soll ich Ersatzteile für eine Hochleistungspumpe bei einem deutschen Hersteller für, sagen wir, 3.000 Euro ordern, nur um sie am übernächsten Tag geliefert zu bekommen, wenn mir ein chinesischer Hersteller in zehn Tagen Lieferzeit eine baugleiche Alternative für 500 Euro anbieten kann?
In vielen Fällen rechtfertigt der Zeitvorteil den Preisaufschlag. Das ist zumindest das Argument, das ich in Gesprächen mit B2B-Unternehmen zu hören bekomme. Aber wenn in nur 10% der Fälle das Preisargument überzeugt, wird das für die F2C-Lieferkette ausreichend sein, um den Markteintritt erfolgreich zu gestalten.
Ab diesem Moment wird es zunehmend schwerer, die hohen Sofortlieferlogistikkosten am Markt durchzusetzen. Durch Temu & Co. gewöhnen wir uns im Privatkundenbereich aktuell massenhaft daran, dass eine Lieferung ein paar Tage länger dauert, dafür aber unschlagbar günstig ist. Warum sollten Geschäftskunden künftig weiterhin anders ticken?
Es lohnt sich, die Perspektive eines chinesischen Herstellers einzunehmen, der händeringend nach den letzten 10% Auslastung für seine Fabrik sucht. Warum sollte er nicht zu Selbstkosten hochwertige Kugellager über solche Prinzipien in den Markt drücken, wenn dadurch die anderen 85% Kapazität seiner Fabrik effizienter ausgelastet werden können? Die unfassbar großen Überkapazitäten, die wir im chinesischen Markt sehen, haben genau solche Vorgehensweisen zur Folge.
Das Marketing lässt sich nicht so leicht übertragen
Bei Amazon kauft man Dinge, die man braucht. Bei Temu und Shein kauft man Dinge, von denen man gar nicht wusste, dass man sie haben wollte. So lässt sich die Marketinginnovation der chinesischen Player zusammenfassen. Ihnen gelingt es mit einem Mix aus Gamification, Rabattaktionen und permanenter Kundenansprache aus der Bedarfsdeckung herkömmlicher Onlinehändler eine Bedarfsweckung zu machen.
Diese Facette der E-Commerce-Revolution lässt sich aktuell kaum auf den B2B-Bereich anwenden, weil Einkäufer dort anders als beim privaten Shopping mit diversen Kontrollmechanismen und anderen Hürden für Impulskäufe konfrontiert sind.
Doch auch wenn dieser Mechanismus sich nicht übertragen lässt, sind die Innovationen in Supply-Chain und Logistik so massiv, dass sie auch in den B2B-Handel hinüber schwappen werden.
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Und was sich auf jeden Fall übertragen lassen wird, ist die Marketing-Erkenntnis, dass es in Zukunft nicht mehr ausreicht, einmal pro Quartal einen qualifizierten Kundenkontakt zu haben. So tickt heute zwar noch etwa Zalando (die alte Welt). Der neue Standard, den Temu & Co. etablieren, ist aber: täglicher Kundenkontakt. In Form von Newslettern, Push-Mitteilungen und anderen Notifications.
Schon heute sollten sich B2B-Unternehmen überlegen, welchen Service sie bieten können, der auch ihnen eine solche Kontaktfrequenz erlaubt. Die Ersatzteilbestellung wird es wahrscheinlich nicht sein.
B2B-Händler werden die Temu-Strategie adaptieren – fokussiert auf Kategorien
Es spricht schlicht sehr viel dafür, auch im B2B-Bereich Businesses nach dem Temu-Prinzip zu bauen. Basierend auf den Verbrauchsdaten von Kunden. Mit individuellen Angeboten, dank direkter Verbindung zu Herstellern und genauer Erfassung der vorhandenen Produktionskapazitäten. Unterstützt durch KI, mit deren Hilfe wir komplexe Datenräume deutlich schneller analysieren können als bisher.
Ein solches neuartiges Angebot funktioniert in absehbarer Zeit allerdings nicht als All-in-Shop, das wäre zu komplex. Aber als Spezialist für einzelne Kategorien lässt sich das Temu-Erfolgsrezept schon heute wunderbar auf den B2B-Bereich übertragen. Eher heute als morgen werden wir Händler sehen, die das in die Tat umsetzen – und damit massive Wettbewerbsvorteile erlangen.