Das europäische Lieferkettengesetz wurde Ende Mai überraschend verabschiedet – und gleichzeitig abgespeckt. Was bedeutet es für den Handel? Die Unterschiede zum deutschen LkSG sind nicht groß, aber entscheidend.
Das EU-Lieferkettengesetz kommt: Der belgischen EU-Ratspräsidentschaft ist es im dritten Anlauf gelungen, im Ausschuss der ständigen Vertreter der Mitgliedsstaaten eine Einigung zur Corporate Sustainability Due Diligence Directive (CSDDD) zu erzielen – so der offizielle Name.
Es muss zwei Jahre nach Inkrafttreten in deutsches Recht umgesetzt werden, voraussichtlich bis Mitte 2026, und wird stufenweise eingeführt: ab 2027 für Unternehmen über 5.000 Mitarbeiter und 1,5 Milliarden Euro Umsatz, ab 2029 dann ab 1.000 Mitarbeitern und 450 Millionen Euro Umsatz. Am Ende werden zwei Drittel weniger Firmen betroffen sein als geplant, rund 1.500 in Deutschland, 7.000 in derganzen EU.

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Textilfabrik im indischen Miraj: Das europäische Lieferkettengesetz soll die Einhaltung von Arbeits- und Umweltstandards in den Lieferantenländern sicherstellen.
Zur Umsetzung des EU-Rechts wird das seit 2023 geltende deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) angepasst. Es dürfte künftig also nicht komplett anders aussehen. Ein wichtiger Unterschied: Anders als im LkSG, das auf Berichtspflichten setzt, wird es im EU-Gesetz eine Haftungsregelung geben. Sprich: Wenn es irgendwo in der Lieferkette zu Menschenrechtsverletzungen oder Umweltschäden kommt, ob beim chinesischen Zulieferer oder brasilianischen Bauern, kann der hiesige Händler dafür belangt werden.
Drohende Haftung für Händler vermeiden
„Das ist für Unternehmen mit Zehntausenden Lieferanten enorm gefährlich“, sagt Johannes Graf Keyserlingk, Leiter CSR beim Handelsverband HDE – und für ihn der Hauptkritikpunkt am EU-Gesetz.
Der CSR-Profi erklärt: Gesetzt den Fall, ein Händler priorisiere die möglichen Risiken für einen bestimmten Zulieferer etwa in Kolumbien nicht im Sinne der Kontrollbehörden, stattdessen lege er den Schwerpunkt der eigenen Präventivmaßnahmen auf andere Regionen und Lieferketten. Wenn es dann – entgegen der begründeten Risikoabwägung – in Kolumbien zu einem Menschenrechtsverstoß komme, könne der Händler haftbar gemacht werden.
Um Rechtssicherheit zu schaffen, brauche es daher nun „unbedingt präzise Leitlinien der EU-Kommission, wie genau konkrete Risiken gegeneinander abzuwägen sind“, sagt Keyserlingk.
Fahrerstreik mit Folgen
Welche Folgen das Gesetz in der Praxis haben kann, mussten bereits die Logistiker erleben. Weil Lkw-Fahrer unter anderem aus Georgien, Usbekistan und der Ukraine wegen ausstehender Löhne ihres polnischen Arbeitgebers 2023 wochenlang auf einer Raststätte bei Darmstadt streikten, schaltete sich das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (Bafa) ein. Es ist für die Einhaltung des LkSG zuständig. Bei 58 deutschen Speditionen und Unternehmen wurde das Amt plötzlich vorstellig: Sie seien in der Auftraggeberkette nach dem LkSG mitverantwortlich und hätten handeln müssen.
Dieser Verantwortung, die vom Einzelhändler bis zum Rohstoffimporteur reicht, kann sich niemand entziehen. Die Lieferanten Codes of Conduct unterschreiben zu lassen reicht hier nicht. 2023 überprüfte das Bafa 468 Unternehmen, darunter auch etliche große Händler. Sie mussten nachweisen, dass sie ein Risikomanagement aufgebaut, einen Verantwortlichen bestimmt oder einen Beschwerdemechanismus eingerichtet hatten. Immerhin: Strafen drohen erst einmal nicht.
Unter den zahlreichen großen Händlern, die das Bafa angeschrieben hatte, war auch der Drogeriemarkt-Riese Dm. Man habe alle Fragen „umfassend beantworten“ können, sagt Geschäftsführer Christoph Werner. Dm habe bislang rund 700.000 Euro in den Aufbau des Risikomanagements investiert, Berater engagiert, spezielle Software installiert und Stellen im Haus geschaffen.

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Schokoladenfabrik in Ghana: Lebensmittel gehören wie Textilien oder mineralische Rohstoffe zu den Risikosektoren.
Warten auf Gerichte
Bereits seit Jahren wähle man Rohstoffe risikominimierend aus, sagt Werner, und prüfe für risikobehaftete Rohstoffe Alternativen. Doch es werde auch künftig Produkte geben, die „entlang ihrer Lieferkette gewisse Risiken bergen“, ist der Dm-Chef sicher. Daher setzt er nicht auf Vermeidung um jeden Preis, sondern auf konsequente Minimierung.
Und das Haftungsrisiko? „Die in der CSDDD formulierte Haftung wird sich abschließend erst bewerten lassen, wenn Gerichte deren konkrete Auslegung definiert haben“, glaubt Werner. Davon werde abhängen, ob zum Beispiel bestimmte Länder künftig grundsätzlich gemieden würden. „Wie wir es auch wenden“, so der Dm-Chef, „am Ende wird es eine wirtschaftliche Bewertung bleiben, bei der Nutzen gegen Risiko abgewogen werden muss. Ob dies die Arbeitsbedingungen für die Menschen in Risikoländern tatsächlich verbessern wird, werden wir in den kommenden Jahren sehen.“
„Es braucht unbedingt präzise Leitlinien der EU-Kommission, wie genau konkrete Risiken gegeneinander abzuwägen sind“
Generell ist die Wirtschaft alles andere als begeistert von den zusätzlichen Pflichten (siehe Textkasten oben). Doch wenn schon, dann lieber auf europäischer Ebene, scheint der Tenor im Handel zu lauten. Man unterstütze die Richtlinie mit dem Ziel, „gleiche Wettbewerbsbedingungen in unserer Branche zu gewährleisten“, sagt Modehändler Zalando.
Textilien gehören wie Landwirtschaft, Lebensmittel oder mineralische Rohstoffe zu den Risikosektoren. Mediamarkt Saturn wünscht sich einen „einheitlichen, praxistauglichen Rechtsrahmen“ für den europäischen Markt, der „unerlässlich“ sei, um Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden. Die Otto-Gruppe begrüßt „ausdrücklich“, dass das EU-Gesetz nun den „Flickenteppich“ nationaler Regeln ersetze.
Freiwilligkeit reicht nicht
Wie Dm sieht sich auch Otto gut vorbereitet. bereits seit 30 Jahren habe man Prozesse zur Einhaltung von Sozial- und Umweltstandards etabliert. Zu einem generellen „systemischen Wandel“ habe freiwilliges Engagement jedoch nicht geführt. Daher begrüße man auch den jetzigen „Paradigmenwechsel“.
Für Dm-Chef Werner gibt es hier allerdings zwei Ebenen: Einerseits habe man als Handelsunternehmen nur begrenzten Einfluss. Andererseits könne man aber durch langfristige Kooperationen und Kaskadierung entlang der Lieferketten positiv einwirken.
Klar ist für Werner indes: „Wir gewinnen nichts, wenn wir nicht durchsetzbare Standards fordern und die Waren dann in Länder fließen, die diese Forderungen nicht stellen.“ Und durch Rückzug aus „herausfordernden Ländern“ vergebe man „jede Möglichkeit der positiven Einflußnahme“.
Werner propagiert denn auch eine Art EU-Siegel für Nachhaltigkeit und Menschenrechte nach dem Vorbild des Bio-Siegels. Dann könnten die Kunden selbst entscheiden. Eine solche, im EU-Gesetz verankerte „Safe-Harbour-Lösung“ hätte auch dem HDE gefallen – und womöglich einen Verbesserungswettbewerb unter den Zertifizierungen ausgelöst. Doch die NGOs witterten unisono das „Feigenblatt“. „Das ist im Gesetz kein Thema mehr“, sagt Keyserlingk.
„Wie wir es auch wenden: Am Ende wird es eine wirtschaftliche Bewertung bleiben, bei der Nutzen gegen Risiko abgewogen werden muss.“
Mehr Nearshoring?
Unterdessen schlägt der DIHK bereits Alarm: Knapp ein Viertel von 2.400 befragten Unternehmen denke wegen des Lieferkettengesetzes über den Abbruch von Handelsbeziehungen nach, hat eine Studie ermittelt. So werde im Zweifel Nachhaltigkeit auf Kosten der Lieferketten-Diversifizierung erreicht.
Der BDI wiederum hatte seine Mitglieder zum Afrika-Engagement befragt. Zwar wollten die meisten dieses ausbauen, doch fühlten sich zwei Drittel durch das LkSG gehemmt. Kaffeeröster Dallmayr etwa hat sich bereits explizit wegen LkSG-Risiken aus Äthiopien verabschiedet, der Baukonzern Strabag will gar ganz Afrika streichen.
Solch drastische Schritte seien dem HDE im Handel bislang nicht bekannt. Doch man werde dies genau beobachten, sagt HDE-Manager Keyserlingk. Denn die Gefahr scheint real. Bereits bei der LkSG-Entstehung hatten Gutachter des Wirtschaftministeriums davor gewarnt. Und eine aktuelle Studie von Capgemini geht davon aus, dass die Offshore-Beschaffung bis 2025 um 7% zurückgehen wird und 80% der Konsumgüter- und Handelsunternehmen stärker auf regionale Lieferanten und solche aus politisch verbündeten Ländern setzen – das sogenannte Friendshoring. In welchen Fällen dies nun besser oder schlechter ist, darüber dürfte dann noch trefflich zu diskutieren sein.
Dieser Artikel erschien zuerst in Der Handel.