Die chinesischen E-Commerce-Giganten Shein und Temu revolutionieren den Onlinehandel wie wir ihn bisher kennen. Dabei sind es vor allem die aggressiven Marketingstrategien, die es beiden Unternehmen binnen kürzester Zeit ermöglichten, weltweit gigantische Verkaufszahlen zu erzielen. Tobias Ring, Geschäftsführer von Scayle und Experte für internationalen E-Commerce, erklärt, wie Shein und Temu mit einem starken Fokus auf Daten, Gamifizierung und Beeinflussung externer Algorithmen es schaffen, ihre Fangemeinde kontinuierlich auszubauen und was Händler daraus lernen können, ohne die zum Teil kritikwürdigen Praktiken kopieren zu müssen.
Die chinesischen Onlineshops Temu und Shein stehen für rasantes Wachstum. Temu, erst im September 2022 an den Start gegangen, hat innerhalb von zwei Jahren in mehr als 60 Länder expandiert und erzielte im Mai 2023 ein Bruttowarenvolumen von 635 Millionen US-Dollar.
Shein macht inzwischen ein Fünftel des globalen Fast-Fashion-Marktes aus, wobei sich der Nettoumsatz von 15,7 Milliarden US-Dollar im Jahr 2021 auf 30 Milliarden US-Dollar im Jahr 2022 mehr als verdoppelt und seit 2019 verzehnfacht hat. Laut Financial Times soll das Bruttowarenvolumen von Shein im vergangenen Jahr 2023 auf 45 Milliarden US-Dollar gestiegen sein.
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Alles andere als nachhaltig, aber sehr erfolgreich: Die Billigmode von Temu und Shein findet unter jungen Konsumenten in Deutschland reißenden Absatz.
Diese Entwicklung zahlt sich jedoch nicht für alle aus. Die Kritik an den Businessmodellen von Shein und Temu ist breit gefächert und beginnt bei Sicherheitsbedenken und Qualitätsmängeln und geht über Umweltverschmutzung bis hin zu dem Verdacht, dass die extremen Niedrigpreise dem Einsatz von Zwangsarbeit geschuldet sind.
Chinesische Onlineriesen versenden täglich 10.000 Tonnen Ware
Auch die globale Luftfrachtbranche bringt Shein und Temu in Bedrängnis, da die begrenzte Kapazität des Luftfrachtraums bei steigendem Frachtvolumen die Preise steigen lässt. Nach Angaben von Cargo Facts Consulting versendet Temu rund 4.000 Tonnen pro Tag, Shein 5.000 Tonnen, Alibaba.com 1.000 Tonnen und Tiktok 800 Tonnen. Das entspricht etwa 108 Boeing 777-Frachtern pro Tag. Auch der CO2-Fußabdruck der Billigprodukte ist immens.
Dabei profitieren die Billiganbieter insbesondere von einer Regelung: Derzeit müssen für Päckchen unter einem Warenwert von 150 Euro bei der Einfuhr nach Europa keine Zollgebühren bezahlt werden. Billig-Händlern wie Temu und Shein, die diesen Wert kaum überschreiten, kommt das zugute. Nun will die EU eingreifen und jene 150-Euro-Zollfreigrenze abschaffen. Nur soll die neue Regelung erst 2028 in Kraft treten.
Warum aber boomen beide Unternehmen, wenn ihre Zielgruppe – die Generation Z – eigenen Angaben zufolge viel Wert auf nachhaltigen Konsum legt?
Daten sind König
Was Shein und Temu von anderen Onlinehändlern unterscheidet, ist, dass sich ihr gesamtes Geschäftsmodell auf die Sammlung und Nutzung von Daten konzentriert. Das macht es ihnen möglich, jedem einzelnen Kunden, der ihre App oder Website nutzt, ein einzigartiges, personalisiertes Einkaufserlebnis zu bieten.
Sobald sich ein Benutzer angemeldet hat und sich innerhalb der App oder auf der Website bewegt, präsentiert der Algorithmus automatisch personalisierte Angebote, die auf dem Benutzerverhalten und ähnlichen Verhaltensweisen anderer Benutzer basieren. Die Daten werden über alle Kanäle hinweg gesammelt – von der App über Desktop-Websites bis hin zu Werbe- und E-Mail-Kampagnen.
Hinzu kommt, dass Shein und Temu ihre Benutzeroberflächen ständig anpassen, um den Verbrauchern stets Neues zu bieten. Unterhaltsame Features wie Outfit-Wettbewerbe und Minispiele werden angeboten, um die Produkt-Feeds zu untermalen und den Online-Einkaufsbummel zu einem ganzheitlichen Erlebnis zu machen. Anreize wie Bonuspunkte, mit denen Warenkorbrabatte von bis zu 70% erzielt werden können, locken Shein-Nutzer möglichst oft in die App.
Shein und Temu nutzen zudem Echtzeitdaten, um ihre Geschäftsmodelle kontinuierlich anzupassen. Über diese Daten können sie den Umsatz maximieren, Margen optimieren und gleichzeitig Überproduktionen reduzieren.
Temu hat durch die Entwicklung seines Reverse-Manufacturing-Modells unter Beweis gestellt, dass es die Kundennachfrage mit der Menge der von den Herstellern produzierten Produkte in Einklang bringen kann. Bei Shein verhält es sich ähnlich: Jeder Artikel wird zunächst als Testballon in kleinen Stückzahlen produziert, um anschließend bei steigender Nachfrage enorme Mengen nachzuproduzieren.
Gamifizierung des Kundenerlebnisses
Beliebte Social-Media-Apps wie Tiktok und Instagram machen es vor: Verbraucher scrollen lieber anstatt zu klicken. Dies ist für Unternehmen von Vorteil, da dadurch größere Mengen an Benutzerdaten generiert werden als bei seitenbasierten Layouts. Zudem werden gleichzeitig die Interaktionskosten gesenkt. Shein und Temu haben dieses „unendliche Scrollen“ in ihren Apps und auf ihren Websites übernommen – auch um sie dadurch länger auf der Seite zu behalten.
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Shein forciert den App-Einkauf und animiert Nutzer mit Boni und Rabatten, sich immer wieder einzuloggen.
Die Apps beider Marken werden zudem mit Produkt-Feeds geradezu überschwemmt: Die „Neu“-Seite von Shein bietet ein endloses Angebot von Empfehlungen mit zusätzlichen Schnittstellen für neue Produkte, die beim Scrollen des Benutzers angezeigt werden.
Die Temu-App bietet demgegenüber Feeds, die Angebote, saisonale Produkte und z.B. Neuheiten kategorisieren, die mit einem einzigen Wisch vollständig aktualisiert werden können. Je mehr Produkte der Nutzer sieht und je mehr Informationen er auf Website und App hinterlässt, desto mehr Daten stehen dem Algorithmus zur Verfügung, um letztendlich den Umsatz zu optimieren.
Zudem hat Temu In-App-Spiele entwickelt, die Benutzer immer wieder mit hochwertigen Gutscheinpaketen belohnen. Der vielseitige Gamification-Ansatz schafft noch mehr Kanäle für Direktmarketing-Kampagnen, die z.B. Kunden mit abgebrochenen Warenkörben wieder in den Verkaufsprozess zurückführen sollen. Im Endeffekt entsteht daraus eine sich selbst tragende algorithmische Feedbackschleife, von der das Unternehmen durch steigende Umsätze profitiert.
Einfluss auf externe Algorithmen
Ein weiterer Erfolgsfaktor von Temu und Shein ist ihr starkes Investment in Influencer-Kampagnen. Influencer liefern organischen Content und beeinflussen darüber die Algorithmen beliebter Plattformen wie Tiktok und Youtube.
Shein investiert sehr stark in Social Commerce. Die Strategie, eine Vielzahl von Makro- und Mikro-Influencern zu nutzen, hat zu Trends wie dem „Shein-Haul“ geführt. Den „Haul“ gibt es seit 2008, aber die digitale Strategie von Shein hat den Trend auf ein neues Niveau gehoben, wobei der Shein-Haul-Hashtag im ersten Halbjahr 2021 rund 2,5 Milliarden Aufrufe auf Tiktok erzielte. Im Jahr 2023 sprangen immer noch über 13.000 Influencer auf den Zug auf – ein Beweis für Sheins Fähigkeit, Nutzer nachhaltig zu aktivieren.
Temus aggressive Marketingstrategie gibt bis zu 500 Mio. US Dollar pro Quartal für digitale Anzeigen aus, die vor allem neue App-Nutzer generieren soll, während die organischen Inhalte auf bestehende Kunden abzielen und so ein kontinuierliches Kundenengagement gewährleisten sollen. Mit diesem ganzheitlichen Ansatz stellt Temu sicher, dass die Algorithmen beliebter Plattformen viele verschiedene sowohl organische als auch bezahlte Inhalte aufgreifen, um damit eine maximale Awareness zu erzielen.
Fazit
Es ist unbestreitbar, dass die aggressiven Marketingstrategien von Shein und Temu eine Wirkung haben. Davon können sich westliche Onlineshops durchaus etwas abschauen, denn Erfolge lassen sich auch ohne Megabudgets erzielen.
Marken sollten maximal datengetrieben arbeiten, um wertvolle Erkenntnisse zu gewinnen, sich aber nicht ausschließlich auf die Gewinnung von Neukunden konzentrieren, sondern durch einzigartige Kundenerlebnisse die Kundenloyalität steigern und die Differenzierung von Wettbewerbern vorantreiben. Wenn Sie es richtig anstellen, wird das einen sich selbst erhaltenden Kreislauf erzeugen.