Multichannel heißt nicht nur, dass stationäre Händler Onlineshops eröffnen – sondern auch, dass Onliner sesshaft werden. Etailment- und Der-Handel-Redakteur Stefan Becker beschreibt, für welche Anwendungsfälle dieser Schritt sinnvoll ist.
Schon lange bezeichnet sich Mister Spex nicht mehr als Online-, sondern als Omnichannel-Optiker. Elf Onlineshops und 74 Ladengeschäfte betrieb das Unternehmen bisher in Europa, darunter 66 Läden in Deutschland. Im August verkündete Mister Spex das Restrukturierungsprogramm „Spex Focus“. Es bedeutet zwar die Schließung aller acht Filialen im Ausland. Ansonsten aber rückt der „Fokus“ klar in Richtung stationäres Gerschäft.
Unter dem neuen Claim „Der Optiker deines Lebens“ will Mister Spex seine Zielgruppe um die 40- bis 60-Jährigen ergänzen und hat das Portfolio an Einstärken- und Gleitsichtgläsern dafür „maßgeblich erweitert und optimiert“.

© Mr. Spex
Flagship-Store von Mister Spex in Köln: Der Brillenanbieter positioniert seine Marke neu.
Anders gesagt: Der Optiker will fort von Korrektur- und Sonnenbrillen und sich „auf Optik und das hochmargige Geschäft“ ausrichten. Dazu braucht es Filialen: „Die Bedeutung unseres Retail-Geschäfts wächst stetig, und unsere Standorte werden zu Anlaufstellen für persönliche Beratung und erstklassigen Service“, sagt Chief Commercial Officer Francesco Liut.
Außer im Fernsehen und online wirbt Mister Spex auch regional, „um Filialstandorte herauszustellen und (Kunden) in die Stores zu bringen.“ Klarer kann man es kaum sagen.
Beratung, Haptik, hochpreisige Produkte
Wenn Onliner sich auf die Suche nach Ladenlokalen machen, stehen dahinter klar definierte Gründe. Einer davon ist der persönliche Kontakt zum Produkt – weil Beratung nötig ist, weil es um das sehr persönliche Umfeld geht oder weil die Kunden angesichts hoher Preise Bestätigung brauchen.
Spielzeug und Musik-CDs sind kein Beratungsgeschäft, Brillen und Optik sehr wohl. Mister Spex sah sich „der klaren Nachfrage unserer Brillenkunden“ gegenüber, von Angesicht zu Angesicht beraten zu werden, sagt Chief Retail Officer Nils Vortmann.
Außerdem ließen sich Brillenanpassung und Optik „nach wie vor technisch nicht komplett online abbilden“. Daher arbeitet er von jeher mit rund 350 niedergelassenen Optikern in Deutschland zusammen, die gegen Bezahlung die Anpassung von Korrekturbrillen übernehmen. Und: „Brillen sind sehr haptisch und sehr persönliche Produkte. Die Menschen wollen vor dem Kauf wissen, wie sie mit der Brille aussehen.“
Verkostungen und Schulungen
Das Stoffliche ist auch der Grund, warum Kaffee-Versender Roastmarket Anfang 2024 seinen Flagship-Store in der Nähe der Frankfurter Einkaufsstraße Zeil aufgemacht hat. Dort geht es logischerweise um Kaffee – aber nicht nur. Von den rund 4.000 Produkten des Onlineshops, darunter 2.100 Kaffeesorten und 1.500 Kaffeemaschinen, bietet der Laden etwa 400.
In der oberen Etage des zweigeschossigen Lokals laufen Verkostungen und Barista-Schulungen. Im Schaufenster stehen Kaffeemaschinen im Wert von mehreren Tausend Euro.
„Der Onlineshop wird immer unser Herz sein, der Kaffeemarkt läuft erst zu 5 bis 6% online und hat viel Potenzial“, sagt Geschäftsführer Stefan Scholle. „Aber die Kundenerwartungen zeigen, dass wir beides können müssen.“ Das liegt nicht zuletzt an den Maschinen: „Die Kunden reisen auch überregional an“, sagt Scholle. „Sie kommen topinformiert. Sie haben Fragen zu Gewährleistung und Service, wollen aber oft einfach nur die Maschine sehen, bevor sie sie kaufen.“

© Stefan Becker
Kaffeemaschinen im Schaufenster: Store von Roastmarket in Frankfurt am Main.
Fast wortgleich äußert sich Martin Schwager, Chief Operating Officer von Notebooksbilliger.de. Der Onlinehändler mit sieben stationären Stores in großen Städten konzentriert sich auf Computer und Zubehör, also ebenfalls eher hochpreisige Produkte. „Es gibt Kunden, die die Haptik wollen. Sie haben schon viel recherchiert, aber sie suchen einen letzten Check im Laden“, sagt Schwager. „Das ist ein relevanter Punkt für viele Menschen.“
Der Weg dorthin beginnt durchaus im Onlineshop: Dass Kunden sich zur Begutachtung drei Notebooks in den Laden schicken lassen und nur eines kaufen, sei völlig normal.
Stores ziehen Neukunden an
Notebooksbilliger.de wählt seine Standorte mit Absicht abseits der Fußgängerzonen. Die Stores in München und Dortmund etwa liegen an vielbefahrenen Straßen in Bahnhofsnähe. „Wir suchen die Lagen auch aus Marketing-Perspektive“, sagt Schwager. Das knallige Orange mit der URL als Firmenname macht aus dem Store eine Werbefläche – wer oft daran vorbeifährt, merkt sich den Namen.
Die Stores haben die klare Aufgabe, Kunden zu gewinnen und stationäre zu Onlinekunden zu machen. „Wir haben festgestellt, dass um unsere Stores herum die Conversion steigt“, sagt Schwager.

© Notebooksbilliger.de
Marketing-Lage: Notebooksbilliger.de am Dortmunder Königswall, direkt gegenüber dem Hauptbahnhof
Auch hier fast wörtliche Übereinstimmung mit Mister Spex: „In einem Radius von fünf Kilometern rund um einen Store sehen wir nach dem Eröffnungsmonat signifikantes Wachstum bei den Online-Sales“, sagte 2022 der damalige CEO Mirko Caspar den Bloggern von OMR. „Die Stores sind ein Markensichtbarkeitselement“, bestätigt CRO Vortmann. „Aber wir machen sie nicht deshalb auf. Sie dienen vor allem der Neukundenakquise, der Anteil liegt dort zum Teil bei 50%.“
Die Stores sind – keine Überraschung – eng an die Onlineshops angebunden. „Unsere Alleinstellung ist die nahtlose Verzahnung“, sagt zum Beispiel Nils Vortmann von Mister Spex. Die “ Geburt“ als Onliner bedeute, dass Shops und Stores nicht in Konkurrenz zueinander stünden. „Wir brauchen zum Beispiel keine Zuordnung der Kunden zu einzelnen Stores.“
Live-Beratung für Onlinekunden aus den Stores heraus bieten allerdings weder Mister Spex noch Roastmarket und auch nicht Notebooksbilliger.de, wo es vielleicht am nächsten läge: Unsere Store-Mitarbeiter haben den Fokus, die Kunden des Stores zu beraten. Für eine zusätzliche Video-Beratung bliebe gar nicht genügend Zeit“, sagt Martin Schwager.
Abverkauf im Outlet
Und dann gibt es noch Zalando. Die 16 Stores des Modehändlers (er spricht von Outlets) haben einen eng abgesteckten Auftrag: vornehmlich den Abverkauf von Überhängen, B-Ware, Einzelteilen und Retouren aus dem eigenen Haus.
Dahinter stand am Anfang keine umfassend geprüfte stategische Entscheidung – „es war ein Test, vielleicht zu Beginn sogar eine Schnapsidee“, sagt Dorothee Schönfeld, Managing Director Zalando Stores. Was in Berlin begann, hatte Erfolg, so viel, dass es inzwischen 16 Outlets sind.
Trotz des Wachstums gibt es bei Zalando, anders als in anderen Konzepten, wegen des besonderen Sortiments bislang kaum Verzahnung zwischen Online und Stationär – keine konsistenten Preise, keine Onlinebestellung aus dem Store heraus, kein Click&Collect. Nur eine Benachrichtigung an die Bestandskunden über Neueröffnungen.
Das soll auch erst mal so bleiben, sagt Schönfeld: „Wir sind ein Onlineplayer, auf diesem Feld verstehen wir die Kunden, dort sind wir besonders stark“, sagt sie. „Retail ist für uns eine Ergänzung.“ Neukunden? „Es ist eher umgekehrt: Wir gehen dahin, wo viele unserer Kunden sind.“ Volumenstarke Standorte und schlanke Prozesse ermöglichten es, auch mit reduzierter Ware profitabel zu arbeiten.
Und in Zukunft?
Womit muss der stationäre Handel also rechnen? Zalando will weitere Outlets eröffnen, bleibt aber stationär wohl ein Schnäppchenhaus, das auch in schlechten Zeiten blüht. Ansonsten regiert die Vorsicht.
Notebooksbilliger.de gibt sich aktuell zurückhaltend, was weitere Stores angeht – die Frequenzen im stationären Geschäft sind noch nicht wieder dort, wo sie vor der Covid-19-Pandemie waren. Der Computerhändler weint auch nicht der Entscheidung von 2018 nach, das damals geplante Joint Venture mit 125 Läden der Marke Medimax abzusagen: „Unabhängig von den Gründen hatten wir mit der Absage natürlich Glück, denn kurz danach hätten wir Läden während der Pandemie schließen müssen“, sagt Martin Schwager trocken.
Von Mister Spex kommen klare Angriffssignale – die Pressemitteilung zur Restrukturierung allerdings lässt ahnen, wie viel Kapital Stores binden: „Allein durch die Filialschließungen (im Ausland) erwartet das Unternehmen einen wiederkehrenden Anstieg des freien Cashflows (FCF) von etwa 2 Millionen Euro.“
Dieser Artikel erschien zuerst in Der Handel.