Keine reine Zukunftsmusik mehr: KI-gestützte Systeme, bei denen künstliche Intelligenz erkennt, wann ein vom Haltbarkeitsdatum kritisches Produkt abläuft, um es dann mit einem Preisvorteil zügiger abzuverkaufen. In diesem Gastbeitrag wirft Matthias Guffler, Partner in der Strategieberatung EY-Parthenon, einen genaueren Blick auf die Möglichkeiten, mit Hilfe von KI Lebensmittelverschwendung zu vermindern.
Fast 11 Millionen Tonnen Lebensmittel – so viel Obst, Gemüse, Fleisch, Käse, Wurst- und Backwaren wurden in Deutschland im Jahr 2020 gemäß einer Erhebung des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft weggeworfen. Eine erschreckend hohe Zahl, und auch dieses Jahr wird eine ähnliche Menge Lebensmittel in den Mülltonnen landen.
Die Verschwendung von Lebensmitteln entsteht in der gesamten Produktions- und Lebensmittelkette. 800.000 Tonnen (7%) pro Jahr fallen allein im deutschen Handel an, davon zur Hälfte frische Lebensmittel. Weitere 1,9 Millionen Tonnen (17%) entstammen der Gastronomie und für ganze 59% der Lebensmittelverschwendung sind die Privathaushalte verantwortlich.

© Imago / CHROMORANGE
Lebensmittelverschwendung: ein wirtschaftliches, ökologisches und soziales Problem
Allein für die deutschen Händler bedeutet diese Lebensmittelverschwendung einen jährlichen Verlust von über 2 Milliarden Euro. Die Ursachen sind vielfältig. Beispielsweise muss das Angebot von Lebensmitteln mit Mindesthaltbarkeitsdatum sehr genau auf die tatsächliche Nachfrage vor Ort, also in jeder Filiale und jedem Restaurant abgestimmt sein – ein Prozess, der häufig händisch oder nur mit begrenzter technischer Unterstützung abläuft. Genau hier kann künstliche Intelligenz (englisch: Artificial Intelligence, AI) unterstützen.
„Traditionelle“ AI
Dem Handel stehen zwei grundsätzliche AI-Instrumente für die Optimierung von Einsteuerung und Abverkauf von Lebensmitteln zur Verfügung: AI und Generative AI (GenAI). “Traditionelle“ AI löst spezifische Aufgaben, basierend auf klar strukturierten Regeln und Daten. Sie unterstützt den Handel beispielsweise dabei, die Nachfrage und Zahlungsbereitschaft der Konsumenten besser vorherzusagen und wirtschaftlichere Entscheidungen zu treffen.
AI-basierte Standardsoftware ist bereits verfügbar und wird beim Pricing oder in der Mengensteuerung genutzt: Wie viele Becher Vanillejoghurt 200g der Marke XY werden am kommenden Montag abverkauft, wie viele nächsten oder übernächsten Montag? Welchen Einfluss hat die Werbeaktion des Wettbewerbs? Wie hoch ist der Einfluss des vorhergesagten Regenwetters auf den Absatz von Grillfleisch am kommenden Wochenende? Um wie viel Prozent müssen zehn Kirschjoghurts im Preis gesenkt werden, damit diese bis zum Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums in zwei Tagen abverkauft werden? Welche Preissenkung ist margenoptimal, welche reduziert den Bestand auf null und eliminiert die Lebensmittelverschwendung?
Hier kann AI die Lebensmittelverschwendung deutlich weiter reduzieren und bis zu 10% EBITDA zusätzlich für das Handelsunternehmen sichern. Allerdings ist gerade bei verderblicher Ware noch viel Verbesserungspotenzial bei den oft noch händischen Prozessen vorhanden.
Generative AI: Die nächste Stufe der künstlichen Intelligenz
Die nächste Stufe der künstlichen Intelligenz, GenAI, ist nicht nur in der Lage, vollkommen neue Inhalte wie Texte und Bilder zu erstellen, sondern kann auch bei der Vermeidung von Lebensmittelverschwendung helfen. Generell sind die Möglichkeiten schier endlos und der derzeitige Hype darum auch.
Viele Handelsunternehmen experimentieren bereits mit ersten Piloten, etwa bei skalierbareren Kundeninteraktionen wie der Call-Center-Beratung und der Automatisierung von Unterstützungsprozessen. Anstelle eines „dummen“ Chat-Bots, der aufwendig auf jede Frage-Antwort-Kombination programmiert werden muss und Kunden mit seinen begrenzten Einsatzmöglichkeiten häufig verärgert, tritt nun echte, menschenähnliche Kommunikation mit der „intelligenten“ GenAI, in Chatform.
Noch natürlicher ist die Interaktion in Form von gesprochener Sprache (Voice) – die Kundin fragt, der Bot antwortet. Menschliche Mitarbeiter kümmern sich dann um die komplexeren Fälle im sogenannten Second-Level-Support.
Ein weiteres Einsatzfeld ist die Unterstützung kurzfristiger Abverkaufsaktionen für verderbliche Lebensmittel, inklusive der Erstellung SEO/SEA-optimierter Texte. Beispielsweise können GenAI-Modelle an heißen Sommertagen erste kreative Bild- und Videovorschläge für Eiscremewerbung in den Sozialen Plattformen erstellen. Die Mitarbeiter werden erheblich entlastet und können sich auf andere Aufgaben konzentrieren. Schon im ersten Schritt sind dabei bis zu 30% Kostenreduktion möglich.

© EY-Parthenon
Künstliche Intelligenz kann Konsumenten per Bilderkennung helfen, die Nahrungsmittel im Kühlschrank optimal einzusetzen, wie in diesem – ebenfalls mit Hilfe von AI erstellten – Bild.
Rezeptideen aus der App
Auch für Konsumenten sind bereits erste GenAI-Anwendungen in der Entwicklung. So kann GenAI beispielsweise per Bilderkennung mit dem Handy erkennen, welche Lebensmittel im Kühlschrank lagern, und passende Rezeptideen liefern. Aus alternden Zucchini, Paprika, Tomaten und Auberginen wird so ein leckeres Ratatouille. Händler, die Teil eines solchen App-Ökosystems werden, können deutlich davon profitieren, wenn über die Apps beispielsweise zusätzliche Zutaten geordert und per Instant-Delivery ausgeliefert werden können.
AI und GenAI bieten Händlern also nicht nur die Möglichkeit, Verschwendung zu reduzieren und dadurch Kosten zu senken, sondern auch umfassende Chancen, die Umsätze zu erhöhen. Und da die Systeme noch nicht alle fertig zur Verfügung stehen, gilt umso mehr: Die Zeit zum Handeln ist jetzt.