Wer sich ernsthaft mit E-Food beschäftigt, sollte die Wahl des richtigen Kommissioniermodells nicht als bloße Technik abtun, sondern als strategische Entscheidung begreifen. Matthias Schu aus dem Etailment.de-Expertenrat umreißt in seinem Gastbeitrag die verschiedenen Modelle samt Vor- und Nachteilen.
Der Online-Lebensmittelhandel wächst im DACH-Raum beständig weiter. 2024 wurden laut BEVH und Statistischem Bundesamt in Deutschland 3,9 Mrd. Euro mit Lebensmitteln im Netz umgesetzt (ohne Restaurant Delivery). Das entspricht einem Zuwachs von 5,5 Prozentpunkten zum Vorjahr (versus + 1,3 Prozentpunkte stationär).
Die Nachfrage steigt also, und E-Food müsste den Anbietern auch auf Grund der vielen wiederholten Käufe Freude machen – während ein A-Kunde im Non-Food-E-Commerce 4 bis 6 Mal im Jahr bestellt, sind es bei E-Food-A-Kunden Rund 40 Bestellungen pro Jahr. Dennoch kämpfen viele Anbieter mit einem zentralen Problem: mangelnder Profitabilität.
Dies zeigt sich aktuell auch in der vor ein paar Wochen in der Lebensmittel Zeitung publik gewordenen Diskussion bei Spar Österreich, allenfalls mit dem Online-Kanal brechen zu wollen. Laut Marktbeobachtern soll hier im September final der Stecker gezogen werden.
Im Zentrum der Profitabilitäts-Challenge bei E-Grocery steht – neben der besonders teuren letzten Meile – eine oft unterschätzte, aber umso entscheidendere Stellschraube: die Intralogistik. Denn sie ist das Zünglein an der Waage, ob Händler mit großen Warenkörben Geld verdienen oder verbrennen.
Die „echte“ Kostenwahrheit hinter dem E-Food-Versprechen
Lebensmittel sind ein vergleichsweise margenschwaches Geschäft – egal, ob online oder stationär. Das gilt trotz online deutlich größerer Warenkörbe: rund 90 Euro online vs. rund 25 Euro offline, (laut EHI für das Jahr 2024). Denn im E-Food verschärfen zusätzliche Kostenblöcke wie Picking, Verpackung und Zustellung, die stationär auf den Kunden abgewälzt und outgesourced sind, die wirtschaftliche Lage erheblich. Diverse Studien zeigen: Alleine die letzte Meile verschlingt als größter Kostenblock schnell rund 40 Prozent der Fulfillmentkosten. Gefolgt von Picking mit rund 20 Prozent. So wundert es kaum, das ineffizientes Picking aus einem eigentlich profitablen Warenkorb schnell ein Verlustgeschäft mit negativem Deckungsbeitrag machen kann.

© Matthias Schu
Fulfillment ist nicht gleich Fulfillment: Vier Modelle im Vergleich
Die Wahl des richtigen Kommissioniermodells ist kein operatives Randthema – sie ist einer der strategischen Kernbereiche eines E-Food-Geschäftsmodells. Jedes Modell bringt spezifische Investitionskosten, Effizienzpotenziale und Skalierbarkeiten mit sich. Entscheidend ist: Das Modell muss zur aktuellen und künftigen Bestellstruktur sowie zur Gesamtstrategie passen. Ergo gibt es nicht das eine perfekte Modell – vielmehr hängt die Wahl stark vom Bestellvolumen, der strategischen Ausrichtung, den verfügbaren Flächen und den Investitionsmöglichkeiten des Händlers ab.
Oft wird zwischen vier grundlegenden Modellen unterschieden:
1) Store Picking – der schnelle Einstieg
Store Picking ist heutzutage die meistgewählte Einstiegsvariante vieler traditioneller Händler im LEH, da sie auf die bestehenden stationären Flächen mit so genannten «eh-da»-Kosten aufsetzt. Mitarbeitende kommissionieren dabei direkt aus dem Verkaufsregal heraus, parallel zum normalen Kundenbetrieb.
Der große Vorteil liegt klar auf der Hand: Die Einstiegskosten sind gering, da weder separate Immobilien noch zusätzliche Lagertechnik erforderlich sind. Auch der Zeitvorteil ist attraktiv – viele Händler können innerhalb weniger Wochen live gehen, was Store Picking zur bevorzugten Lösung für Pilotregionen oder initiale MVP-Setups macht. Auch, da hier oft die letzte Meile in Kooperation mit Plattform-Carriern aus dem Restaurant-Delivery-Service-Bereich wie Just eat Takeaway, Lieferando, Wolt, Uber Eats oder auch Last-Mile-Spezialisten wie Dodo oder Notime abgewickelt wird.
Die Schwächen jedoch sind erheblich: Die Picking-Prozesse sind nur mäßig effizient, da die Märkte nicht auf Kommissionierung ausgelegt sind – es entstehen lange Wege, Wartezeiten und bei großen Online-Volumina Konflikte mit dem stationären Kundenfluss. Zudem ist die Skalierbarkeit stark limitiert – spätestens ab ein paar Hundert Bestellungen pro Tag gerät dieses Modell an seine Grenzen. Und wirtschaftlich betrachtet ist es ein Drahtseilakt: Nur bei hoher operativer Exzellenz und sehr schlanken Prozessen lässt sich eine positive Marge erzielen.
Store Picking ist also mehr eine taktische Start- und Übergangslösung – aber vor allem bei steigenden Volumina kaum eine tragfähige Langfriststrategie.
2) Dark Stores: mehr Effizienz durch Trennung vom Kundenbetrieb
Dark Stores sind speziell für den E-Food-Kommissionierprozess konzipierte Lagerflächen ohne Kundenverkehr. Der Begriff wurde erstmals 2009 von Tesco in Großbritannien verwendet, die einen Supermarkt mit geringerer Frequenz schlossen und als quasi Online-only-Lager für E-Food nutzten. Dark Stores ähneln daher immer noch einem klassischen Markt mit manuellem Picking, sind jedoch layoutoptimiert für den Kommissionierprozess. Gängig sind Standorte in urbaner Nähe an verkehrsgünstigen Lagen, um kurze Zustellwege zu ermöglichen.
Vorteilhaft sind hier vor allem die deutlich effizienteren Abläufe: Die Laufwege sind kürzer, Regalgänge breit und sortiert nach Picklogik. Das senkt die Pickzeiten massiv und reduziert Fehlerquoten. Zudem lassen sich Mitarbeitende gezielt für diesen Prozess schulen, ohne auf stationäre Kompetenzen angewiesen zu sein.
Doch auch hier gibt es Herausforderungen: Die Mieten für geeignete Flächen – vor allem in Ballungsräumen – sind hoch, was sich auf die Fixkostenstruktur auswirkt. Zudem sind die Pick-Effizienz sowie die Lagerdichte deutlich geringer als bei teil- oder vollautomatisierten Lösungen. Und auch ein weiterer Faktor macht sich bei der manuellen Kommissionierung wie auch auf der letzten Meile im DACH-Raum stark bemerkbar: der Mangel an Fachkräften und geeigneten Mitarbeitenden.
Zusammengefasst bieten Dark Stores eine sinnvolle Brückenlösung zwischen Store Picking und vollautomatisierten Modellen – besonders geeignet für Händler mit Ambitionen in dicht besiedelten Regionen.
3) Micro-Fulfillment-Center (MFC) – die hybride Antwort des stationären Handels
MFCs kombinieren das Beste aus zwei Welten: Sie sind hochgradig auf Effizienz getrimmt, liegen aber oft direkt am oder im stationären Markt. Damit nutzen sie oft bestehende POS-Strukturen und ermöglichen dennoch skalierbares, automatisiertes Picking (Schnelldreher im automatischen Picking, Langsamdreher im Markt, die ggf. manuell noch ergänzt werden können). Zudem sind solche Ansätze neuerdings auch im größeren Stil in Frankreich als reine Click-&-Collect-Standorte ohne angeschlossenen Supermarkt in der Verbreitung, Beispielsweise bei E.Leclerc in Kombination mit einer Automatisierungslösung von Exotec.
Die Vorteile: Einerseits bleibt die Nähe zum Kunden und damit die Möglichkeit schneller Lieferungen („Same Day“ oder sogar innerhalb weniger Stunden) bestehen. Andererseits schaffen MFCs durch Automatisierung (Shuttle-Systeme, Fördertechnik oder Pick-Roboter) eine deutliche Reduktion der Personalkosten. Gleichzeitig wird der stationäre Einkauf nicht beeinträchtigt, da das Fulfillment in separaten, nicht für Kunden zugänglichen Bereichen erfolgt.
Auf der Kehrseite stehen die nötigen Investitionen: Ein MFC braucht Platz (oft ab 800 qm Lagerfläche), Technik und eine tiefgreifende Integration in die IT- und Logistikprozesse des Händlers. Zudem eignet sich nicht jede Bestandsfiliale für eine solche Integration – was entweder den Umbau oder einen gezielten Neubau erforderlich macht. Auch die Steuerung von Lagerbeständen und Cross-Channel-Bestellungen ist komplexer.
Ein MFC ist die strategisch ausgereifteste Lösung für Filialhändler mit wachsendem Onlinevolumen. Es macht den Store zur Omni-Hub-Plattform – aber nur bei entsprechender Investitionsbereitschaft.
4) Central Fulfillment Center (CFC) – Skalierung durch Automatisierung, wenn’s richtig brummt
CFCs sind vollautomatisierte Großlager, oft am Stadtrand oder in logistisch gut angebundenen Regionen gelegen. Sie verarbeiten zehntausende Bestellungen pro Tag und sind ausgerichtet auf maximalen Durchsatz bei minimalen Stückkosten.
Die Vorteile sind aus betriebswirtschaftlicher Sicht eindeutig: Die Fixkosten werden über sehr hohe Bestellmengen verteilt – Stichwort Fixkostendegression. Dank Robotik, Automatisierung und Prozess-Standardisierung sinken die variablen Kosten pro Bestellung deutlich. Gleichzeitig lassen sich größere Sortimentstiefen und Cross-Docking-Modelle einfacher integrieren. CFCs findet man etwa von TGW Logistics bei Picnic in den Niederlanden und Deutschland, Frisco in Polen oder mit «Scarlet One» von Knapp beim Rewe Lieferservice.
Allerdings ist der Kapitaleinsatz enorm: Planung, Bau, Genehmigungen und Technik binden Zeit und Ressourcen, oft über mehrere Jahre. Zudem ist ein CFC allein nicht die Lösung für schnelle Same-Day-Delivery – die Zustellung muss mit Hubs, Cross-Docks oder Satellitenstandorten ergänzt werden.
CFCs sind eine Art strategisches Rückgrat. Sie bieten konkurrenzlose Effizienz – setzen jedoch tiefgreifende Planung und ein langfristiges Commitment voraus; genauso wie eine vorhandene Auslastung, um von der Fixkostendegression profitieren zu können.
Fixkostendegression & Automatisierung: Zwei Hebel für Effizienz im E-Food
Im E-Food entscheidet nicht allein der Umsatz über den wirtschaftlichen Erfolg, sondern die Struktur der Kosten pro Bestellung – und damit die Fähigkeit, die Fixkosten auf ein wachsendes Bestellvolumen zu verteilen. Diese betriebswirtschaftliche Logik wird unter dem Begriff Fixkostendegression zusammengefasst und ist insbesondere in kapazitätsintensiven Geschäftsmodellen wie der Lebensmittellogistik von herausragender Bedeutung.
Fixkostendegression: Fulfillment-Infrastrukturen – ganz gleich, ob Dark Store, MFC oder CFC – bringen initial hohe Investitionskosten mit sich. Dazu zählen nicht nur die technischen Anlagen und IT-Systeme, sondern auch Fixkosten für Miete, Energie, Instandhaltung und Overhead. Entscheidend ist, wie viele Bestellungen täglich über diese Struktur abgewickelt werden können. Denn nur dann, wenn eine möglichst hohe Auslastung gegeben ist, reduziert sich der Fixkostenanteil je Bestellung signifikant.
Ergo: Je höher das tägliche Bestellvolumen, desto effizienter „trägt“ sich das System – dieser Zusammenhang ist einfach, aber in der Praxis oft schwer umzusetzen. Eine unterausgelastete Infrastruktur verursacht schnell massive Deckungsbeitragsverluste. Deshalb ist die Wahl des Fulfillment-Modells nicht losgelöst von der eigenen Absatz- und Expansionsplanung zu treffen.
Automatisierung: Neben den Fixkosten ist die zweite große Stellschraube für Effizienz die Senkung variabler Kosten, insbesondere der Lohnkosten für Picking, Verpackung und Versandvorbereitung. Hier kommt die Automatisierung ins Spiel. Je nach eingesetzter Technologie (zum Beispiel Cube-Systeme, Shuttle-Systeme, Pick-Roboter oder automatische Fördertechnik) lassen sich Pickzeiten drastisch reduzieren – in Dark Stores um etwa den Faktor 2, in CFCs sogar um etwa den Faktor 4 im Vergleich zum Store Picking.
Automatisierung ist also kein Selbstzweck, sondern eine hochwirksame Methode, um die prozessualen Personalkosten nachhaltig zu senken – gerade in einem Marktumfeld, in dem qualifiziertes Lagerpersonal knapp und teuer ist. Darüber hinaus erhöht Automatisierung die Prozesssicherheit, senkt Fehlerraten und erlaubt eine stabilere Taktung auch bei Auftragsspitzen.

© Matthias Schu
Unit Economics im Blick: Der Warenkorb allein reicht nicht
In der Diskussion um die Rentabilität des E-Food-Business wird häufig der durchschnittliche Warenkorb als entscheidender Erfolgsfaktor genannt. Doch in der Realität greift diese Sichtweise zu kurz. Nicht der Umsatz entscheidet, sondern der Deckungsbeitrag pro Bestellung – also die sogenannten Unit Economics. Dieser betriebswirtschaftliche Blick auf die Kosten-Erlös-Relation einer einzelnen Bestellung ist essenziell, um valide Aussagen zur Tragfähigkeit eines Modells zu treffen.
Die zentrale Frage lautet: Bleibt nach Abzug aller direkten Kosten ein positiver Beitrag zum Gesamtergebnis übrig? Und wenn ja: Wie hoch ist dieser – und wie lässt er sich systematisch verbessern?
Ein realistisches E-Food-Geschäftsmodell muss also sämtliche Kosten pro Order berücksichtigen:
• Kommissionierungskosten (Zeitaufwand, Löhne, Verpackung),
• Lager- und Standortkosten (anteilig auf Bestellebene),
• Lieferkosten (inkl. letzter Meile, Fahrzeug, Personal),
• IT-, Payment- und Customer-Service-Kosten,
• Marketing und CAC,
• Zentralkosten bzw. Overhead.
Dem gegenüber stehen jedoch nur begrenzte Erlöspositionen:
• Verkaufserlös des Warenkorbs,
• Liefergebühren,
• ggf. Upselling oder Marketingmonetarisierung (z. B. über WKZ oder Retail Media).+
Viele Händler versuchen, durch Mindestbestellwerte oder Anreize zur Warenkorbsteigerung die Marge zu optimieren. Das ist grundsätzlich sinnvoll, aber keinesfalls ausreichend. Denn selbst bei einem Warenkorb von 100 Euro kann das Ergebnis negativ sein, wenn die Pickkosten bei 8 Euro und die Lieferkosten bei 7 Euro liegen – was je nach Modell durchaus realistisch ist.
Die Wahrheit ist: Nur wer alle Treiber der Unit Economics versteht und steuert, kann die Marge nachhaltig verbessern.
Dazu gehören beispielsweise:
• Prozessoptimierung im Fulfillment (→ niedrigere variable Kosten),
• Automatisierung der Kommissionierung (→ Pickkosten senken),
• intelligente Lieferlogistik (→ Tourenbündelung, Zeitfenstersteuerung),
• dynamische Gebührenmodelle (→ mehr Kostendeckung auf der letzten Meile),
• selektives Sortiment & höhere Eigenmarkenanteile (→ Margenhebel auf Warenseite).
Fazit: Wer E-Food profitabel machen will, muss in die Intralogistik investieren
Wer sich ernsthaft mit E-Food beschäftigt, sollte die Wahl des richtigen Kommissioniermodells nicht als „technisches Detail“ abtun, sondern als strategische Entscheidung begreifen. Ein rentables E-Food-Geschäft basiert nicht auf reinem Umsatzwachstum, sondern auf einer stabil positiven Deckungsbeitragsstruktur auf Einzeltransaktionsebene.
Genau deshalb ist der Blick auf die Unit Economics so entscheidend – und genau deshalb sollten Unternehmen ihre Kommissionier- und Lieferprozesse regelmässig nicht nur technisch, sondern betriebswirtschaftlich auf den Prüfstand stellen.
Denn nur mit effizienten, skalierbaren Prozessen lassen sich die enormen Potenziale des Marktes heben – und das Geschäftsmodell langfristig auf solide Füße stellen. Intralogistik ist kein Cost Center. Sie ist der Hebel zur Profitabilität.