Die chinesische Shopping-Plattform Temu versucht mit aller Kraft in Europa Fuß zu fassen – und hat inzwischen ChatGPT von Platz eins im App Store verdrängt. Christian Maaß, Geschäftsführer Tech & Data bei Thomann Music, wirft für Etailment einen genaueren Blick auf Temu.com. Er sagt, in welchen Bereichen der chinesische Anbieter exzellent aufgestellt ist, warum er dennoch hierzulande (noch) viel Kundenvertrauen verspielt und was der Markteintritt von Temu für den deutschen Handel bedeutet.
Anfang der 2000er-Jahre betraten die ersten chinesischen Automobilhersteller den deutschen Markt. Ihre Fahrzeuge galten im Vergleich zu den deutschen Fabrikaten als qualitativ minderwertig. In den letzten Jahren hat sich das Blatt allerdings gewendet. Zumindest im Bereich der Elektromobilität sind es nun die deutschen Hersteller, die als rückständig gelten.
Im Handel befinden wir uns heute in einer ähnlichen Situation wie in der Automobilindustrie vor 20 Jahren. Jüngst sorgte der Start von Temu.com für Aufsehen, ein chinesischer Marktplatz mit rund 61 Milliarden Bestellungen pro Jahr und 11 Millionen angeschlossenen Händlern. Ähnlich wie damals fallen aber auch heute die ersten Reaktionen aus: Die Ware sei qualitativ minderwertig, „Produktpiraterie“ usw. Bei genauerer Betrachtung hinkt jedoch der Vergleich mit der Automobilindustrie, denn im Technologie-/KI-Bereich gehören chinesische Unternehmen schon heute zur Weltspitze.

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Temu.com lockt mit Tiefstpreisen und investiert massiv in Influencer- und „Referral“-Marketing. Nutzer werden mit Bargeld belohnt, wenn sie neue Kunden werben.
Chinesen stecken die Ziele hoch
Dies kommt nicht von ungefähr, denn China ist eines der wenigen Länder, das z. B. konkrete und messbare volkswirtschaftliche Ziele für den Bereich Technologie & KI formuliert hat: Bis 2030 will man einen Wert von umgerechnet 1,3 Billionen Euro durch die KI-Industrie und die damit verbundenen Wirtschaftszweige schaffen. Zum Vergleich: Das Bruttoinlandsprodukt in Deutschland betrug im Jahr 2022 knapp 4 Billionen Euro.
Insofern ist es nicht ganz unerwartet, dass Apps wie Temu aktuell die Download-Charts der einschlägig bekannten App-Stores erobern und mit absoluten Kampfpreisen Kunden gewinnen möchten. Dies führt unmittelbar zu der Frage, inwieweit Temu das Potenzial hat, den Handel in Deutschland zu disruptieren und welche Konsequenzen damit einhergehen könnten.
Der erste Eindruck: Technische Exzellenz in der Kaufanbahnung
Man muss keine vertiefte Analyse führen, um zu der Einschätzung zu gelangen, dass Temu die Grundlagen moderner E-Commerce-Architekturen verstanden hat. Ein guter Indikator hierfür ist z. B. der Umgang mit Produktdaten.
Sucht man bei Temu z. B. nach Textilien, lassen sich die Suchergebnisse nicht nur nach Farben, Preisen oder Materialien filtern. Die Plattform bietet darüber hinaus vertiefte Filtermöglichkeiten hinsichtlich der Pflegehinweise (Maschinenwäsche, Handwäsche, etc.), der Gewebeelastizität (dehnbar, nicht dehnbar, etc.) oder sogar nach dem Drucktyp des Motivs.
Auch beim Mouseover über die Artikelgrößen werden sofort Produktmaße angezeigt. Grundsätzlich kann man konstatieren, dass Temu sehr gut in den Grundlagen des E-Commerce aufgestellt ist. Sei es im Hinblick auf die hier angesprochenen Produktdaten, die Integration von Best-Practices im Bereich Conversion-Boosting oder die Umsetzung von One-Click-Bestellungen, Streichpreisen, Rabatten und vielen weiteren Punkten.
All diese Dinge sind einzeln betrachtet vielleicht nicht sonderlich beeindruckend, aber im Gesamtzusammenspiel ist darin nach wie vor ein Novum zu sehen, von dem der Großteil der hiesigen Händler noch ein gutes Stück entfernt ist.
Man hat sich bei Temu ganz offensichtlich damit beschäftigt, welche Daten man in welcher Form benötigt und anzeigen möchte. Alleine schon aus dieser Datenstruktur heraus eröffnet sich dem Unternehmen eine gewisse Flexibilität im Hinblick auf die Personalisierung, etc. Im Kern geht es dabei um ganz grundlegende Architekturentscheidungen, die sich rückwirkend in der Regel nur mit einem großen Kraftakt ändern lassen und die bei Temu offenbar gut durchdacht wurden.
Der zweite Eindruck: Operative Exzellenz in der Bestellabwicklung
Eine herausragende Technik in der Verkaufsanbahnung ist förderlich, allerdings nur eine Seite der Medaille. Letztendlich kommt es darauf an, inwieweit den Kunden auf dieser Grundlage ein gutes Erlebnis geboten wird. Aus Kundensicht geht es ex post einer Bestellung vor allem um die Frage, wann diese eintrifft. Auch diesbezüglich macht Temu aus technischer Sicht einen guten Job.
Es lässt sich sehr leicht und transparent im Kundenkonto nachvollziehen, wann die Bestellung platziert, verpackt oder verschickt wurde und wo sie sich aktuell in welchem Status befindet. Im Schnitt wurden meine Bestellungen z. B. innerhalb von sechs bis zehn Stunden verschickt und verbrachten die meiste Zeit damit, auf den Abflug in China zu warten oder den deutschen Zoll zu passieren.
Auch diese Dinge mögen sich profan anhören. Den meisten Händlern in Deutschland gelingt es jedoch nicht, dies in ähnlicher Granularität abzubilden, in der Regel leitet man hier den Kunden schlichtweg zur Sendungsverfolgung an DHL weiter.

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Screenshot: Proaktive Kommunikation durch Temu bei Lieferverzögerungen
Proaktive Kommunikation
Warum betone ich diese Details? Sie sind ein sehr guter Indikator, inwieweit Temu seine operativen Prozesse im Griff hat. Als sich der Sendungsstatus meiner Bestellung über längere Zeit nicht veränderte, wurde mir z. B. proaktiv angezeigt, dass mein Paket sich aktuell im Zoll befinde, aber dennoch pünktlich eintreffen werde (siehe Screenshot oben). Ansonsten würde ich unaufgefordert eine Gutschrift in Höhe von fünf Euro erhalten.
Um so eine Kommunikation umzusetzen, muss man z. B. aufgrund von Erfahrungswerten in der Zollabwicklung an verschiedenen Flughäfen Prognosen zum eigentlichen Lieferzeitpunkt erstellen können, um das Risiko etwaiger Mehrkosten kalkulieren zu können. Gleichzeitig reduziert diese Art der proaktiven Kommunikation auch die Wahrscheinlichkeit potenzieller Kontaktaufnahmen durch den Kunden, wo mit jedem Kontakt Bearbeitungskosten einhergehen.
Es sind diese kleinen technischen Details, die man überall auf der Plattform von Temu findet. Sie addieren sich auf und hängen damit die Messlatte aus technischer und operativer Sicht für Konkurrenten sehr hoch.
Der dritte Eindruck: Das Vertrauen wird fahrlässig verspielt
Am Ende geht es im Handel nicht ausschließlich um eine technisch exzellente Kaufanbahnung/-abwicklung. Sie ist natürlich förderlich zum Vertrauensaufbau. Aber dieses Vertrauen verspielt Temu bislang fahrlässig. Als Marktplatz hat Temu natürlich ähnliche Probleme mit Fake-Bewertungen wie z. B. Amazon. Hinzu kommen aber auch Zweifel hinsichtlich der Authentizität der eigentlichen Produktdaten/-inhalte, die teilweise wie schlechte Fotocollagen wirken und allein deshalb schon vor dem Kauf abschrecken.

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Stark bearbeitete Produktfotos lassen bisweilen Zweifel an der Authentizität aufkommen.
Weiterhin existieren bei vielen Produktfotos scheinbar Unterschiede zwischen den abgebildeten Personen und den darunter referenzierten Fotomodellen, die angeblich die abgebildeten Kleidungsstücke tragen sollen. Im Fall falscher Fotos haben gut gemeinte Verweise auf die Größenangaben zum Modell aber überhaupt keine Relevanz, um die Passform des betreffenden Kleidungsstückes einschätzen zu können. Im Gegenteil, es ist ein Conversion-Killer.
Im Kern sprechen wir hier über handwerkliche Fehler im Marktplatz-Management, wo man bei irreführenden Produktdarstellungen oder Verdachtsfällen von Produktpiraterie proaktiv(er) agieren sollte – man wird z. B. kein echtes T-Shirt von Hugo Boss bei Temu für EUR 7,19 kaufen können (siehe unten). Ansonsten erweist man den seriösen Händlern auf der Plattform einen Bärendienst und konterkariert zusätzlich seine eigenen Wachstumsambitionen in Europa, die aufgrund der Niedrigpreise und sehr offensiven Marketingaktionen in Form von Gutscheinen ohnehin schon sehr kostspielig sein dürften.

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Irreführende Produktinszenierung: unterschiedliche Personen auf dem Produktfoto und dem darunter referenzierten Modell
Fazit: Chinesische Anbieter als neue Realität
Der Markteintritt von Temu ist keine Revolution, er steht vielmehr für eine evolutionäre Entwicklung. Chinesische Händler und Marktplätze werden über kurz oder lang ebenso in der europäischen Handelslandschaft präsent sein wie die chinesischen Automobilhersteller auch.
Die Plattformen sind aus technischer Sicht heute schon exzellent aufgestellt. Aufgrund der skizzierten Problemfelder werden viele Kunden u. U. noch vor dem Kauf bei Temu zurückschrecken. Die Kernherausforderung für einen Marktplatz wie Temu ist daher der Vertrauensaufbau beim Kunden. Wenn diese Herausforderung gemeistert wird, dann werden vor allem solche Produktbereiche unter Druck geraten, die im Niedrigpreisbereich angesiedelt sind oder die wenig Serviceleistungen erfordern bzw. nicht beratungsintensiv sind.
Hier spielt es aus Kundensicht keine Rolle, ob die Waren vom Standort A oder B verschickt werden, solange Preis, Qualität und Lieferzeit im Rahmen sind. Allein schon aufgrund der Kostenstruktur in Deutschland wird man in diesen Bereichen unter Druck geraten, wenn man einfach so weitermacht wie bislang.
Weckruf für den Handel
Denn auch die skizzierten Problemfelder im Hinblick auf die Produktqualität oder die Authentizität der Inhalte/Ware werden aus meiner Sicht nicht dauerhaft bei Temu auftreten: Wem es gelingt eine technisch exzellente Plattform aufzubauen, dem ist auch zuzutrauen, dass er diese Dinge in den Griff bekommt – wenn der Markteintritt in Europa und Deutschland ernst gemeint und kein Marketing-Gag sein sollte. Andernfalls wird es auch für Temu schwierig.
Vor diesem Hintergrund muss man im Markteintritt von Temu vor allem einen Weckruf sehen, das eigene Geschäftsmodell zu hinterfragen und anzupassen. Glücklicherweise sind die Stellhebel, die man jetzt umlegen sollte, auch keine Unbekannten. So hat der deutsche Marketing-Papst Heribert Meffert bereits im Jahr 1985 (!) darauf hingewiesen, dass es im Handel der Zukunft vor allem auf die (a) Zeitersparnis und Convenience, (b) Personalisierung der Kundenkontakte sowie die (c) Erlebnisorientierung beim Einkauf ankommt.
Bei diesen drei Punkten handelt es sich fast 40 Jahre später um genau die Attribute, anhand derer man heute erfolgreiche Handelsmodelle beschreibt. Wenn man sich mit diesen Punkten beschäftigt, dann macht man grundsätzlich schon mal mehr richtig als falsch und muss aufgrund der neuen Konkurrenz nicht in Panik verfallen.