Logistik
von Stefan Becker und Helmut van Rinsum am 24. Juni 2025
Roboter, die die Waren zu den Pickern bringen, Nachbildungen der Lager in 3D: KI verändert die Intralogistik der Handelsunternehmen.
Jede Sekunde werden in den Logistik-Zentren von Amazon Tausende von Bestellungen verarbeitet. Jeden Tag werden einige Millionen Pakete verschickt. Und bei den meisten der weltweit 200 Millionen Prime-Kunden liegt das Päckchen bereits am nächsten Tag vor der Tür – eine logistische Meisterleistung.
Möglich ist sie nur, weil Amazon seine Logistik kontinuierlich auf Hochleistung trimmt und dabei regelmäßig neue Wege geht. Ein Beispiel: In vielen Logistik-Zentren gehen die Mitarbeiter nicht mehr zu den Regalen. Stattdessen transportieren Roboter die Regale zu den Angestellten. Dieser KI-gesteuerte Prozess erfordert intern zwar einen hohen Automatisierungsgrad, führt aber im Gegenzug zu einer deutlich höheren Effizienz. Denn Bestellungen können schneller verarbeitet werden, die Lager werden besser ausgelastet, der Platz optimiert. Gleichzeitig sinken die Betriebskosten.
Außerdem, so Wolfgang Pinkhardt, Business Leader und Technology Strategist bei Unisys, verbessere diese Automatisierung die Auftragsgenauigkeit und ermögliche nahezu fehlerfreie Prozesse. KI in der Intralogistik ist aber nicht nur ein Fall für Handelsriesen. Ganz generell können Einzelhändler mit KI die Geschwindigkeit und Genauigkeit ihrer Auftragsabwicklung erheblich steigern. „Mit prädiktiven Analysen und Robotern kann die Bearbeitungszeit von Stunden auf Minuten sinken“, unterstreicht Pinkhardt. „Diese Technologien verbessern die Leistung, senken die Arbeitskosten und optimieren die Lagerfläche.“
Mit KI-Modellen lässt sich erkennen, ob das Lagerpersonal mit einer bevorstehenden Verkaufsspitze überfordert ist.
Nachfragemuster plus Wetter
Nachfrageprognose und Bestandsoptimierung gehen dabei Hand in Hand. „KI-gestützte Systeme analysieren riesige Datenmengen, um Nachfragemuster mit hoher Genauigkeit vorherzusagen, wobei sie Faktoren wie das Wetter und lokale Ereignisse bis hin zu historischen Verkaufsmustern und Werbeaktivitäten berücksichtigen“, erklärt Henri Kavela, Vice President bei der Plattform Relex. „Anhand dieser Informationen können sie für die richtigen Lagerbestände sorgen, Über- oder Unterbestände reduzieren und die Effizienz bei der Disposition verbessern.“
Relex hat kürzlich eine Lösung namens „True Inventory“ auf den Markt gebracht, die noch einen Schritt weiter geht. Händler können mit dem Tool sogenannte „Phantombestände“ erkennen. In diesem Fall zeigt das Warehouse-Management-System (WMS) an, dass die Ware vorhanden ist, was aber gar nicht stimmt; tatsächlich ist das Regal leer. Die KI nutzt zur Identifikation solcher Irrtümer eine Anomalie- Erkennung und nimmt eine entsprechende Korrektur vor. Kavela: „Es ist so, als hätte man einen hochentwickelten KI-Assistenten, der ständig nach Mustern in den Bestandsabweichungen sucht.“
KI contra Komplexität
Im Frühjahr 2024 hat das EHI Retail Institute 13 Handelsunternehmen ausführlich zur Zukunft der Handelslogistik befragt. Dabei stellten die Marktforscher fest, dass viele Unternehmen begonnen haben, KI einzuführen und Prozesse zu automatisieren. Als Grund nannten sie die steigende Komplexität in den Lagerhallen und die schwierige Suche nach qualifiziertem Personal. Sechs der Händler gaben an, verstärkt Robotik- Anwendungen einsetzen zu wollen, um auf steigende Nachfragen schneller und zuverlässiger als bislang reagieren zu können. Und nahezu alle schätzten die künftige Bedeutung von KI als sehr hoch ein.

© EHI/Grafik Thomas Hirt
Digitale Zwillinge helfen beim Warehousing
Ein gelungenes Beispiel, wie KI im Zusammenspiel mit dem WMS zu neuer Effizienz führen kann, sind „digitale Zwillinge“. In diesem Fall werden reale Lager digital nachgebildet, damit man verschiedenste Betriebsszenarien schnell und kostengünstig durchspielen kann. Damit lässt sich am Bildschirm schon feststellen, ob bestimmte Lagerbewegungen oder Kommissionierprozesse vielleicht effizienter gestaltet werden können.
„Entscheidend ist, dass aus der Analyse nachvollziehbare, verständliche und verlässliche Vorschläge hervorgehen“, erläutert Jerzy Danisz, Product Owner PSIwms beim Softwarehersteller PSI. „Dazu sollten die KI-Modelle und Lagerprozesse detailliert visualisiert werden, beispielsweise mittels 3D-Ansicht und Heatmaps. Dadurch lässt sich zum Beispiel erkennen, ob das Lagerpersonal mit einer bevorstehenden Verkaufsspitze überfordert ist.“ In so einem Fall können dann Gegenmaßnahmen erfolgen.
Der börsennotierte Modekonzern LLP hat inzwischen so eine KI-Plattform im Einsatz. Damit wird ein Distributionszentrum mit 750.000 Lagerplätzen und über 700 Mitarbeitern umfassend analysiert. Nach Angaben des Unternehmens konnten so die Prozesse erheblich optimiert werden. Kommissionierwege, also die Strecken, die Mitarbeiter im Lager zurücklegen müssen, um die Waren zusammenzustellen, wurden um ein Drittel verkürzt.

© Mobile Industrial Robots
Autonome mobile Roboter transportieren Paletten vom Depot ins Lagerhaus, bemannte Stapler übernehmen.
Auch der Intralogistik-Anbieter Still arbeitet an digitalen Zwillingen. Vor einem Jahr schloss er ein Forschungsprojekt ab, dessen Ergebnisse nun in marktfähige Produkte umgesetzt werden sollen. Dabei bilden Echtzeit-3D-Karten die Grundlage. Mit Sensoren ausgestattete Flurförderfahrzeuge sammeln Daten und übertragen diese in die Cloud, wo sie mit weiteren Informationen angereichert werden. Dort wird der Bestand mit dem Lagerverwaltungssystem abgeglichen, mögliche Diskrepanzen werden automatisch identifiziert.
Durch die Live-Informationen aus dem Lager entsteht also eine dreidimensionale Karte des Lagers, die zu jeder Sekunde aktualisiert wird. Möglich wird dadurch auch eine Inventur in Echtzeit. Auch die Sicherheit im Lager kann durch die Erkennung defekter Infrastrukturen oder versperrter Notausgänge deutlich erhöht werden.
Das Lager als Orchester mit Dirigent
Noch sind solche umfassenden Modelle Zukunftsmusik. Doch schon bald könnte das Zusammenspiel Alltag in vielen Lagern sein. „Ähnlich wie ein Dirigent ein Orchester organisiert und dafür sorgt, dass alle Instrumente zu einem harmonischen Gesamtwerk zusammenfinden, orchestriert die Software manuelle und automatisierte Fahrzeuge ebenso wie stationäre Lösungen und übergeordnete Systeme“, sagt Christian Ehlers, Product Manager bei Still.
Wenn ein transparenter Lagerzwilling geschaffen werde, könnten Systeme mit KI daraus unzählige realistische Szenarien ableiten. Damit ließen sich dann auch Wechselwirkungen von Veränderungen an einzelnen Parametern durchspielen und das perfekt optimierte Lager kreieren. Ehlers: „Die Kombination aus historischen Daten und intelligenten Systemen ermöglicht eine neue Dimension an Effizienzsteigerung.“