Der Onlinehandel sieht sich immer noch als Speerspitze des Wandels im Handel. Viele Onlinehändler wiegen sich deshalb in trügerischer Sicherheit, sagt die FMCG-Top-Managerin und Sachbuchautorin Fiona Liebehenz. Warum das gefährlich ist und welche Prinzipien E-Commerce-Unternehmer beachten müssen, um sich erfolgreich für die Zukunft aufzustellen, erklärt sie in diesem Gastbeitrag.
Der entspannten Haltung im Onlinehandel liegt folgende Annahme zugrunde: Der Treiber des Wandels im Handel sei die Technologie – und der E-Commerce trage das Feature „electronic“ von Haus aus in sich. Doch diese Annahme ist falsch. Die Technologie macht den Wandel zwar erst möglich. Doch der entscheidende Wettbewerbsfaktor ist ein anderer.
Der entscheidende Wettbewerbsfaktor
Was den Wandel vorantreibt, ist der Kunde und sein Bedürfnis nach Convenience.
Die Megatrends Individualisierung und Personalisierung haben in den letzten Jahrzehnten große Bedeutung gewonnen. Die Spitze der Maslow-Pyramide, das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung, kann jedoch erst unter der Voraussetzung der Convenience gedeckt werden: Nur dann steht den Menschen ausreichend Zeit zur Verfügung. Deshalb streben sie nach Convenience – in der vollen Breite und Tiefe.

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Die Vorstellung, dass der Onlinehandel weil digital per se fortschrittlich sei, zerplatzt gerade, sagt unsere Gastautorin.
Doch je mehr und schneller die Technologie solche Optimierungen ermöglicht, desto stärker gerät insbesondere der Onlinehandel unter Zugzwang: Dieser Fortschritt trifft ihn härter als den Offlinehandel, denn der kann mit anderen Attributen punkten wie z. B. mit im wahrsten Sinne des Wortes anfassbaren Erlebniswelten.
Die neue Komplexität
Der Grund dafür ist, dass der Onlinehandel wachstumsverwöhnt war: Es ging aufwärts dank oder trotz seiner eindimensionalen Vertriebsstrategie. Doch um die steigenden Ansprüche an die Convenience bedienen zu können und nicht den Anschluss zu verlieren, brauchen auch Onlinehändler heute eine neue Bandbreite – sei es mit mehreren Onlineshops, Geschäftsmodellen oder Marketing-Touchpoints.
Damit baut sich eine Komplexität auf, mit der die Händler erst einmal umzugehen lernen müssen. Wie es aussieht, wenn ein Onlinehändler der ersten Stunde genau diese Erkenntnis (noch) nicht erfolgreich umsetzt, zeigt Alibaba.
Ein strauchelnder Riese
Wie den Fachmedien in den letzten Monaten zu entnehmen war, ist das Unternehmen bei dem Versuch gescheitert, die Nutzer-Convenience in der Breite erfolgreich zu erfüllen: Die externe User-Journey wurde so komplex, dass sie im Vergleich mit anderen Plattformen wie Pinduoduo nicht mehr convenient war. Gleichzeitig wurden die internen Prozesse so komplex, dass sie nicht mehr skalierten.
Der Umgang mit Komplexität ist gerade für von der Struktur her ursprünglich sehr fokussiert aufgestellte Onlineunternehmen eine maximale Herausforderung. Wie können sie es schaffen, ihre bisherige Geschwindigkeit zu behalten, ohne sich in der Komplexität zu verstricken? Nach meiner Erfahrung braucht es dafür das, was ich einen „Better Big System Change“ nenne.
Der „Better Big System Change“
Dieser fußt auf einer Reihe von Prinzipien, die aus den Bereichen Strategie, Struktur und Führung stammen. Die Prinzipien lassen sich auf jedes Unternehmen adaptieren, doch möchte ich an dieser Stelle drei davon herausheben. Diese sind besonders für Onlinehändler relevant, die als Start-ups hochskalieren.
Das Strategie-Prinzip Nachhaltigkeit
Da ist zunächst das Prinzip „Die Strategie ist nachhaltig gestaltet.“ Nachhaltigkeit ist hier im ursprünglichen Sinne des Begriffs aus der Forstwirtschaft gemeint. Der entscheidende Punkt ist, dass die Strategie auch im Rahmen des weiteren Wachstums ressourceneffizient ist – so wie in einem nachhaltig bewirtschafteten Wald nicht zugelassen wird, dass die Bäume immer dichter wachsen, da sonst keiner mehr gut gedeiht.
Das Beispiel Alibaba zeigt deutlich, welche Folgen eine nicht nachhaltig gestaltete Strategie im Onlinehandel hat. Dieser Effekt war in den letzten Jahren im Ansatz auch bei Amazon zu beobachten.
Das Struktur-Prinzip Ausrichtung
Um diese nachhaltige Strategie umsetzen zu können, bedarf es der Ermächtigung („Empowerment“) der Belegschaft. Hier gilt das Prinzip: „Aufbau- und Ablauforganisation werden gemeinsam aufgebrochen und gleichzeitig auf den Markt hin ausgerichtet.“
Die Kundenbedürfnisse haben sich in den letzten Jahren extrem weiterentwickelt. Alibabas Annahmen dazu waren – wie sich zeigte – grundlegend falsch. Das führte unter anderem zur Etablierung einer inadäquaten Organisationsstruktur.
Es lohnt sich, sich mit einem leeren Bogen Papier hinzusetzen und zu überlegen, wie sich ein diverses, diversifiziertes und dennoch vernetztes Team sowie entsprechende Prozesse aufbauen lassen, damit das Unternehmen weiterhin mit der erforderlichen Agilität am Markt agieren kann.
Das Leadership-Prinzip T-Klasse
Um eine solche funktionierende Struktur entwerfen zu können, bedarf es eines weiteren Prinzips: „Ein Leader zeichnet sich durch T-Klasse aus.“ Mit T-Klasse ist gemeint, dass das Kompetenzprofil einer Führungspersönlichkeit vertikal eine tiefe fachliche Expertise und horizontal ein ganzheitliches Verständnis für das System aufweist.
Diese Anforderung ist gerade im Onlinehandel wichtig, weil der Hybrid-Handel immer mehr zur Norm wird. Digitale Expertise alleine reicht dafür nicht mehr aus.
Fazit
Der entscheidende Treiber des Wandels ist das Streben des Kunden nach Convenience. Unter diesem Druck muss sich der Onlinehandel breiter aufstellen. Ein Unternehmen, das die oben genannten Prinzipien in den Dreiklang bringt, vermag bereits deutlich besser, den Takt des Marktes mitzugehen und zu gestalten.