Die Komplexität im E-Commerce hat auf der juristischen Seite deutlich zugenommen. Ohne eine Verschlankung der gesetzlichen Rahmenbedingungen wird es für kleinere Händler immer schwerer Fuß zu fassen, geschweige denn im Wettbewerb zu bestehen, sagt Etailment-Experte Dr. Christian Maaß. Was die Politik nun dringend tun müsste, um faire Wettbewerbsbedingungen zu schaffen, sagt er in diesem Beitrag.
Vor zwanzig Jahren waren im E-Commerce technische Skills ein Wettbewerbsvorteil. Je nach Branche war es teilweise sogar ausreichend, einfach nur online zu sein, um vom allgemeinen E-Commerce-Boom zu profitieren. Zu diesem Zeitpunkt konnte man als Student eigentlich nichts falsch machen, wenn man Informatik studierte. Mittlerweile stelle ich mir immer häufiger die Frage, ob dieser Ratschlag auch heute noch gilt oder ob man besser Anwalt werden sollte, um im E-Commerce einen Wettbewerbsvorteil oder bessere Berufsaussichten zu haben.
Natürlich ist diese Frage bewusst überspitzt formuliert. Allerdings muss man als E-Commerce-Händler regelmäßig neue regulatorische Vorschriften umsetzen, und stellenweise habe ich den Eindruck, dass die Komplexität neuer Regularien schneller voranschreitet als die eigentlichen technischen Innovationen. Dieses Bauchgefühl führt zu drei grundlegenden Fragen:
- Was genau wird wirklich aus welchem Grund komplexer?
- Welche Implikationen resultieren daraus und wer profitiert davon?
- Was wäre aus Handelssicht eine wünschenswerte Optimierung auf politischer Ebene?

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Immer mehr Pflichten und Vorgaben: Was der Gesetzgeber als Rahmen für Verbraucher und Händler formuliert, empfinden viele kleine und mittlere E-Commerce-Anbieter als ein immer enger werdendes Korsett.
1. Drei regulatorische Ebenen
Um ein Gefühl für die juristische Komplexität im E-Commerce zu entwickeln, ist es wichtig, zwischen drei regulatorischen Ebenen zu differenzieren.
- Erstens gibt es EU-Gesetze, die für alle Länder in der EU verbindlich sind, wie z. B. die DSGVO (Datenschutz-Grundverordnung).
- Zweitens beschließen das EU-Parlament und der Rat der Europäischen Union gemeinsam EU-Richtlinien, die zwar für alle Länder gelten, aber unterschiedlich in nationales Recht überführt werden können. Hierzu zählen unterschiedliche Rückgabe- und Widerrufsrechte oder Informationspflichten im Versandhandel.
- Drittens können Länder nationale Gesetze erlassen, die oft auch über die EU-Vorgaben hinausgehen. Ein Beispiel für eine solche nationale Gesetzgebung ist z. B. die Anforderung, dass in Belgien E-Commerce-Händler ab September 2024 zwei verschiedene Versandarten im Checkout anbieten müssen. Diese Regelung ist Teil der belgischen Bemühungen, den ökologischen Fußabdruck des E-Commerce zu reduzieren, indem Lieferungen gebündelt und damit weniger Emissionen verursacht werden.
Vor diesem Hintergrund kam es in den letzten zwei Jahrzehnten zu einer Fülle an Gesetzen und Vorgaben, von denen die wichtigsten in Tabelle 1 (unten) zusammengefasst sind.

© Dr. Christian Maaß
Der Grund für jede einzelne dieser Vorschriften ist, isoliert betrachtet, auch gut nachvollziehbar und legitim. Im Vordergrund stehen z. B. oft der Verbraucherschutz oder Regelungen zur Förderung des nachhaltigen Umgangs mit Ressourcen.
Allein aber aus der reinen Anzahl an beschlossenen und geplanten Vorhaben auf allen drei der oben genannten legislativen Ebenen mit teilweise unterschiedlichen Auslegungsformen und diversen Änderungen resultiert eine weitreichende juristische Komplexität, die in der Regel auch zu einem gewissen technischen Aufwand führt, um die Vorgaben umzusetzen.
Dies führt uns zu Frage 2 dieses Beitrags:
2. Wer profitiert von diesen Entwicklungen?
Die Implikationen für Unternehmen aus diesen Gesetzen sind einfach: Sie müssen zunehmend Ressourcen in die juristische Beratung und die technische Umsetzung der jeweiligen Vorgaben investieren. Für kleinere Händler ist dies ungleich herausfordernder als für etablierte Großunternehmen. Streng genommen profitieren letztgenannte sogar davon, dass die Regularien für kleinere Marktbegleiter nicht ohne Weiteres zu stemmen sind oder sie sich keine spezialisierte Rechtsberatung leisten können.
Betrachten wir dazu ein konkretes Beispiel, um für diese Komplexität ein Gefühl zu entwickeln. Nehmen wir an, dass Sie Lederwaren verkaufen, für die zukünftig der so genannte digitale Produktpass verpflichtend wird; die genauen Fristen und Vorgaben werden in den kommenden Jahren durch EU-Verordnungen spezifiziert. Danach sind dann sehr weitreichende Daten bereitzustellen: Woher stammt z. B. das Leder? Unter welchen Bedingungen wurde es hergestellt und welche Chemikalien kamen während des Gerbprozesses zum Einsatz? Entsprechen die verwendeten Mittel den Umweltstandards?
Darüber hinaus müssten Sie auch detaillierte Angaben zu den Arbeitsbedingungen in der Produktionskette machen, wie etwa die Einhaltung von Arbeits- und Menschenrechten in den Fabriken, in denen das Leder verarbeitet wurde. Die Transportwege des fertigen Produktes müssen ebenfalls offengelegt werden, inklusive der Angabe des CO₂-Ausstoßes, der durch den Transport verursacht wird. Diese Informationen müssen dann in einer standardisierten und leicht zugänglichen Form bereitgestellt werden, um sowohl den gesetzlichen Vorgaben als auch den Erwartungen der Verbraucher gerecht zu werden.
Auch der Gesetzgeber ist überfordert
Die Grundintention dieses Produktpasses ist legitim. Allerdings sprechen wir hier von nur einer Richtlinie, und es ist die Summe der Vorschriften, die zur Komplexitätssteigerung führt, und Komplexität macht erfahrungsgemäß langsam – die vom Kanzler bejubelte neue “Deutschland-Geschwindigkeit” habe ich mir anders vorgestellt.
Erschwerend kommt hinzu, dass solche Vorgaben von international agierenden Plattformen mitunter leicht umgangen werden. Laut einer Untersuchung des Handelsverbands Deutschland (HDE) ist der Gesetzgeber z. B. derzeit weitestgehend machtlos bzw. überfordert, wenn es um Plattformen wie Shein und Temu geht. Sie profitieren aktuell von einer fehlenden Echtzeitvernetzung beim Datenaustausch zwischen den Zollbehörden in Europa und dem Umstand, dass noch weitestgehend unklar ist, wer genau diese Daten dann analysiert und Schlussfolgerungen daraus zieht.
Weiterhin ist der Gesetzgeber schlichtweg damit überfordert, die immer größer werdende Paketanzahl aus China im Hinblick auf Zollgebühren oder die Einhaltung von Sicherheitsstandards zu überprüfen. Im Gegensatz dazu müssen kleinere Händler innerhalb engerer gesetzlicher Vorgaben gegen ungleich größere internationale Plattformen konkurrieren. Wettbewerbsverzerrungen sind die Folge.
3. Was könnte die Politik tun?
Aus Handelssicht ist relativ einfach zu beantworten, welche Optimierungen auf legislativer Ebene anzustreben sind, die ich an dieser Stelle nur kompakt umreiße. Anstatt den Markt mit Verboten und Strafen zu reglementieren – solche Verbote funktionieren bereits bei kleinen Kindern nicht – wäre es wünschenswert, wenn z.B. klare Gebote und Anreize für die Erfüllung bestimmter, aus politischer Sicht erstrebenswerter Ziele in Aussicht gestellt würden.
Beispielsweise wären steuerliche Erleichterungen für Unternehmen, die ihre CO₂-Emissionen durch nachhaltige Logistiklösungen und Verpackungen reduzieren, ein ganz anderer Ansatz und Motivator, um die Transformation zu mehr Nachhaltigkeit voranzutreiben als reine Gesetze und Strafmaßnahmen; bei Thomann konsolidieren wir z. B. bereits heute mehrere Packstücke zu einem Paket anstatt mehrere Päckchen an den Endkunden zu verschicken.
Solche Maßnahmen erfordern jedoch Investitionen, für die wir die richtigen Rahmenbedingungen brauchen, ansonsten werden sie vielfach nicht getätigt. Wenn Unternehmen und Politik hier an einem Strang ziehen würden, dann kostete es deutlich weniger als neue Bürokratie, denn Verbote und Strafen sind nur der halbe Job. Was die Politik vernachlässigt, ist das gemeinsame Gestalten und „Möglichmachen“.
EU-Gesetzgebung stärker harmonisieren
Weiterhin würden viele Händler in Europa davon profitieren, wenn die Gesetzgebung auf EU-Ebene weiter harmonisiert und weniger nationale Alleingänge angestrebt werden – letztgenannte verfolgen mehrheitlich ohnehin nur parteipolitische Interessen und sind keine Antwort auf globale Herausforderungen, die sich nicht mit nationalen Alleingängen lösen lassen.
Dies betrifft nicht nur handelsspezifische Dinge, wie unterschiedliche Rückgabefristen oder Unterschiede bei der Besteuerung bestimmter Produkte. Es wäre nicht nur für den Handel, sondern für die gesamte Wirtschaft eine große Erleichterung, wenn innerhalb der EU z. B. leichter Arbeitnehmer aus anderen EU-Ländern eingestellt werden könnten.
Denn obwohl die Arbeitnehmerfreizügigkeit eine der zentralen Säulen der EU ist, unterliegen Arbeitsverträge und Beschäftigungsverhältnisse in vielen Ländern immer noch den jeweiligen nationalen Arbeitsgesetzen. Dies führt zu Unterschieden in Bezug auf Mindestlöhne, Arbeitszeiten, Kündigungsfristen und Sozialversicherungsbeiträge, was die Anstellung von Arbeitskräften aus anderen EU-Ländern komplex macht.
Natürlich ist das in gewisser Hinsicht ein reines Wunschdenken, denn Bürokratien entwickeln sich weiter und Staaten werden weiterhin ihr eigenes Ding machen; tendenziell haben wir in Europa mehr einen Trend in Richtung Heterogenisierung als zur Homogenisierung des europäischen Binnenmarktes. Schön wäre es aber, wenn es dann zumindest für jedes Thema eine Art One-Stop-Shop gäbe, über den Pflichten zentral geregelt werden und der Informationen mit nationalen Behörden austauscht, damit nicht jedes Unternehmen im Alleingang das Rad aufs Neue erfinden muss.
Schlupflöcher schließen
Ein dritter Punkt betrifft schließlich die internationale Kontrolle und Durchsetzung der bestehenden Gesetze. Hier braucht es klare Mechanismen und eine bessere Vernetzung auf europäischer Ebene, um Schlupflöcher zu schließen, die von großen Plattformen teilweise ausgenutzt werden.
Natürlich wird an diesen Themen gearbeitet, allerdings erfordern die bestehenden Strukturen der gesetzgebenden Institutionen einfach viel Zeit, was ebenfalls den großen und nicht den kleinen Akteuren in die Hände spielt.
Fazit
Insgesamt bleibt festzuhalten, dass die Komplexität im E-Commerce auf der juristischen Seite deutlich zugenommen hat. Ohne eine Verschlankung der gesetzlichen Rahmenbedingungen wird es für kleinere Händler zunehmend schwerer, im E-Commerce Fuß zu fassen, geschweige denn nachhaltig zu bestehen. Die Profiteure der aktuellen Situation sind, überspitzt formuliert, große, international agierende Plattformen sowie Anwaltskanzleien und spezialisierte Beratungen, die sich über zukünftige Anfragen zu regulatorischen Themen keine Gedanken machen müssen.
Entsprechend muss die Politik genau an solchen Stellen handeln, um faire und einfache Wettbewerbsbedingungen zu schaffen, die Innovationen und Investitionen anziehen. Die Unternehmen in Deutschland haben hinreichend viele Mitarbeiter, die gute Lösungen und Geschäftsmodelle innovieren können – wenn die richtigen Rahmenbedingungen gegeben sind und wir wieder mehr Entwickler als Anwälte einstellen können.