Der E-Commerce wird komplexer. Online-Händler laufen Gefahr, darauf mit zusätzlicher Komplexität zu reagieren. Christian Maaß skizziert die Felder, die Händler im Auge behalten sollten.
Künstliche Intelligenz ist seit dem Erfolg generativer Sprachmodelle eine Art moderner Feenstaub, der alle unsere Probleme in Luft auflösen soll. Ähnlich verhält es sich mit diätetischen Lebensmitteln, von denen man sich in analoger Weise die Elimination unserer Gewichtsprobleme erhofft. Doch in beiden Fällen wenden wir komplexe Lösungen auf bereits komplexe Probleme an.
Statt natürliche Lebensmittel zu wählen oder Bewegung in den Alltag zu integrieren, greifen wir häufig zu noch stärker verarbeiteten Alternativen wie Diät-Shakes. Das bedeutet, wir erhöhen die Komplexität, statt auf die Grundlagen zurückzukommen. Auf ein komplexes Problem muss man jedoch mit den Grundlagen antworten, nicht mit zusätzlicher Komplexität. Folgende Dinge können als Beispiele für Komplexitätsfallen dienen, vor denen Online-Händler sich in Acht nehmen sollten.
Verkaufen zum regulären Preis
E-Commerce-Unternehmen standen lange Zeit für stetiges Umsatzwachstum. Angesichts globaler wirtschaftlicher und politischer Herausforderungen rücken aktuell jedoch Themen wie die Effizienzsteigerung und die Optimierung betriebswirtschaftlicher Prozesse in den Vordergrund. Bei mir persönlich hat sich das vor allem in einer Zunahme an Vertriebsanfragen auf Linkedin geäußert. Sehr viele Anfragen habe ich zum Thema Preismanagement erhalten, mit dem Ziel, jedem Kunden einen individuellen Preis zu bieten.
Der betriebswirtschaftliche Grundgedanke dahinter ist einleuchtend: Man versucht die individuelle Zahlungsbereitschaft der Kunden zu prognostizieren, ihnen einen passenden Preis anzubieten, und im Idealfall hat man Umsatz und Deckungsbeitrag optimiert, so die Wunschvorstellung. Ähnliche Überlegungen motivieren Händler zu großen Verkaufsaktionen, etwa um Lagerbestände für neue Saisonware zu leeren.
Unternehmen wie Amazon finanzieren solche Preisstrategien durch Werbeeinnahmen und das Cloud-Geschäft – eine Möglichkeit, die vielen kleineren Händlern nicht zur Verfügung steht. Das führt zu einer klaren Trennung im E-Commerce: „Groß, Nische oder tot“. Um zu überleben, muss man entweder durch Größe und Skaleneffekte dominieren oder in einer Nische einen deutlichen Mehrwert bieten, um reguläre Preise durchsetzen zu können. Für alle anderen wird der Spielraum in der Preisgestaltung – und damit letztendlich der finanzielle Gestaltungsrahmen – immer enger.
Händler sollten sich also fragen: Wie groß ist der Anteil der Bestellungen, den ich zum regulären Preis verkaufe, und wie viele Neukunden habe ich mit Verkäufen zum regulären Preis gewonnen? Und: Welchen Mehrwert kann ich bieten, um beim regulären Preis bleiben zu können – ohne aufwändige Berechnung individueller Preise?
(Technische) Komplexität reduzieren
Die richtige IT
Ohne IT kann man kein profitables Handelsgeschäft aufbauen oder erweitern. Wenn wir über IT-Systeme sprechen, denken viele zunächst nur an ERP- und CRM-Systeme oder den Online-Shop. Doch bei genauerer Betrachtung setzen E-Commerce-Unternehmen oft Hunderte von Tools ein, die manchmal schneller wuchern als Giersch im Schrebergarten. Entscheidungsträger müssen erkennen, dass diese Komplexität das Unternehmen verlangsamt.
Oft führen unklare Zuständigkeiten, fehlende Prioritäten und der Wunsch nach neuen Funktionen zu noch mehr Komplexität. Komplexität an sich ist jedoch nicht immer negativ und kann in manchen Fällen sogar notwendig sein. Die Herausforderung für die Geschäftsleitung besteht darin, die Komplexität für die Mitarbeiter zu reduzieren oder zumindest übersichtlich zu gestalten, um die Schlagkraft hoch zu halten. Leider wird dies oft nicht ausreichend umgesetzt, und die Teams müssen sich „irgendwie“ mit den resultierenden Konflikten auseinandersetzen. Motivationsverluste und unnötige Reibungen sind das Resultat.
Abstrahiert man von allgemeinen Führungsaufgaben, dann hängt die Schlagkraft einer E-Commerce-Organisation maßgeblich von der Organisation und Arbeitsweise der Marketing-/Tech-Teams ab. Sie sind das Bindeglied zwischen Kundenwünschen und deren Umsetzung, etwa durch verbesserte Nutzerprozesse. Prinzipien wie DevOps und schlichtweg eine Fokussierung auf wichtige Projekte sind hier ein erster Schritt, um der Komplexitätsfalle zu entkommen. Auch ein guter Softwarearchitekt ist gerade bei historisch gewachsenen Systemen Gold wert, insbesondere wenn er effektiv zwischen betriebswirtschaftlichen und technischen Entscheidern vermitteln und die betriebswirtschaftlichen Ziele in technische Lösungskonzepte überführen kann.
Händler sollten sich also fragen: Wie schnell kann meine IT auf Anforderungen oder kurzfristige Probleme reagieren bzw. agieren, und wie ist es um die technische Komplexität meines Unternehmens bestellt?
Diese Frage muss jeder Entscheidungsträger regelmäßig mit seinen Teams diskutieren, um eine gesunde Balance zwischen technischer Erneuerung und der Umsetzung neuer Kundenwünsche zu gewährleisten.
Die Produkt- und Kundendaten im Griff haben
Viele E-Commerce-Unternehmen sind erfolgreicher als ihre traditionellen Wettbewerber, weil sie systematisch besser verkaufen. Ein tiefes Verständnis über Kundenakquisitionskosten und dem erzielbaren Customer Lifetime Value bilden dafür die Voraussetzung zur Steuerung der Marketingkanäle; hinzu kommt in der Regel eine starke Testgetriebenheit im Hinblick auf die Shop-Optimierung.
Diese Arbeitsweise erfordert eine entsprechende Dateninfrastruktur und eine Architektur, deren Definition und Aufbau allein schon schwer genug ist. Hinzu kommen jedoch immer mehr rechtliche Anforderungen, etwa im Hinblick auf die DSGVO. Mit der bevorstehenden Einführung des digitalen Produktpasses gilt es dann noch weitere Informationen zum Produkt zu pflegen.
Handelt man zum Beispiel mit Holz und daraus abgeleiteten Produkten wie Möbeln, gilt es unter anderem, die Herkunft der Hölzer nachzuweisen, es sind Angaben zu den Verarbeitungsmethoden bereitzustellen, gegebenenfalls auch Zertifikate zu Nachhaltigkeit und Umweltverträglichkeit. Für die EU-Regelung gegen Entwaldung (EUDR) müsste in diesem Fall sogar in Form von Geodaten und Satellitenbildern belegt werden, dass die Produkte nicht zur Entwaldung beitragen.
Die Liste der Vorschriften ließe sich mühelos fortschreiben, aber das ist nicht der springende Punkt. Alle Themen münden in der Herausforderung, seine Kunden-/Produktdaten noch umfassender zu managen als bislang. Dies geht weit über die technischen Aspekte hinaus. Je durchdachter die technische Aufstellung ist, desto besser lassen sich diese Anforderungen jedoch umsetzen.
Händler sollten sich also fragen: Wie managen wir unsere Kunden-/Produktdaten in einem Zeitalter, in dem wir einerseits weitreichende technische Möglichkeiten zur Personalisierung und Automatisierung haben und andererseits enge gesetzliche Rahmenbedingungen beachten müssen?
Fazit
In wirtschaftlichen turbulenten Zeiten sollte man die Felder im Auge behalten, die in zusätzliche Komplexität führen können. Die hier skizzierten Fragen decken sicherlich nicht alle Facetten ab, die es in diesem Kontext zu berücksichtigen gilt. Sie legen den Finger jedoch genau in die Wunden, die im operativen Alltag in der Regel oft am meisten schmerzen.